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Der Holzmadener Ähne im Weilheimer Lazarett

Helmut Fischer hat sich in die Geschichte seines Großvaters Christian während des Ersten Weltkriegs eingearbeitet

Die Fahnen zeigen es an: Zwei Gebäude am Weilheimer Marktplatz dienten im Ersten Weltkrieg als Rot-Kreuz-Lazarett für verwundete
Die Fahnen zeigen es an: Zwei Gebäude am Weilheimer Marktplatz dienten im Ersten Weltkrieg als Rot-Kreuz-Lazarett für verwundete Soldaten. Am 31. Oktober 1914 kamen die ersten Patienten in Weilheim an. Irgendwann 1915 oder 1916 hat sich auch Christian Fischer aus Holzmaden unter denjenigen befunden, die im Weilheimer Lazarett zur Genesung gelangten. Das Bild unten zeigt eine Einheit des Reserveinfanterieregiments 120. Christian Fischer (1885 bis 1950) steht auf dem Foto in der ersten Reihe. Er ist der dritte von links. Fotos: pr

Holzmaden. Vor hundert Jahren – also zu Beginn des Jahres 1915 – war die anfängliche Kriegsbegeisterung, die in manchen Teilen der Bevölkerung geherrscht hatte, längst der Ernüchterung gewichen. Spätestens

mit dem Jahreswechsel muss es auch den größten Optimisten und Hurrapatrioten klar geworden sein, dass der Krieg nicht so schnell zu Ende sein würde wie anfänglich immer propagiert. Vom Weihnachtsfrieden an manchen Stellen der Westfront, auf den seit einigen Jahren regelmäßig in den Medien verwiesen wird, bekamen die Menschen damals nicht viel mit: Er wurde überall offiziell vertuscht. Auch im Krieg gilt also die kabarettistische Erkenntnis Christian Morgensterns, dass „nicht sein kann, was nicht sein darf“.

Vor hundert Jahren war Weihnachten also vorbei, und der Weltkrieg dauerte an. Aus diesem Grund soll die Weltkriegsserie des Teckboten auch im Jahr 2015 fortgeführt werden. Der heutige Teil rückt zum einen den Kriegsteilnehmer Christian Fischer aus Holzmaden in den Mittelpunkt. Zum anderen geht es um einen Berührungspunkt, den Menschen rund um die Teck mit dem Krieg hatten – auch wenn die verhärteten Fronten des Ersten Weltkriegs weit entfernt waren und sich kaum jemals auf dem Gebiet des Deutschen Reichs befanden: Aber Tote und Verwundete gab es eben doch zu beklagen, und zwar unmittelbar in der Heimat.

In Rainer Kilians Beitrag zur Kirchheimer Stadtgeschichte aus dem Jahr 2006 heißt es über die ersten beiden Kriegsjahre: „... die Zahl der gefallenen Kirchheimer betrug am 12. November 1914 bereits 23, sie stieg bis zum Ende des ersten Kriegsjahres auf 60. Ende 1915 betrauerten die Familien 112 Gefallene, darunter 30 Familienväter.“ Ebenfalls schon wenige Wochen nach Kriegsbeginn kamen Verwundete nach Kirchheim. Rainer Kilian: „Am 6. September 1914 traf auf dem Bahnhof der erste Zug mit 60 verwundeten Soldaten ein. Die Bevölkerung war betroffen, als man auf Tragen die Schwerverwundeten ins Wilhelmshospital überführte.“

Für die weniger schwer Verwundeten gab es in Kirchheim zwei „Vereinslazarette“. Das eine befand sich ebenfalls im Wilhelmshospital (der Vorgängereinrichtung des heutigen Kreiskrankenhauses, untergebracht in der heutigen Osianderstraße), das andere im neuen Fabrikgebäude von Otto Ficker. In der Stadtgeschichte heißt es dazu: „Otto Ficker stellte [...] einen Saal mit Küche und Bädern als Lazarett zur Verfügung. Bis zum 30. November 1918 wurden dort 2 093 Verwundete gepflegt.“ Den Begriff „Vereinslazarett“ erklärt Rainer Kilian übrigens folgendermaßen: „Der Terminus [...] bezieht sich auf das Rote Kreuz, das beide Lazarette in seiner Obhut hatte.“

Eine vergleichbare Einrichtung gab es in Weilheim, und auch für die  Weilheimer Stadtgeschichte von 2007 hat sich Rainer Kilian dieses Themas angenommen. Der 31. Oktober 1914 war demnach der Tag, an dem die ersten Verwundeten nach Weilheim kamen – und zwar „in den zum Lazarett umgewidmeten evangelischen Gemeindesaal sowie in das zweite Stadtpfarrhaus“. Auch in Weilheim war es das Rote Kreuz, das das Lazarett betrieb. In diesem Fall war es aber ein schwierigerer Prozess als im Fall des Kirchheimer Fabrikanten Otto Ficker, dem Verein die gewünschten Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. So schreibt Rainer Kilian über Weilheim: „Vorangegangen war der Beschluss des Kirchengemeinderats vom 14. September 1914, dem Antrag des Roten Kreuzes zur Bereitstellung der Gebäude zu entsprechen. Der Stadtpfarrer hatte vergeblich darauf hingewiesen, dass die Räume für die Kirche und Vereine nicht entbehrlich seien.“

Was hat nun die Geschichte der Lazarette in Kirchheim und  Weilheim mit dem Holzmadener Christian Fischer zu tun? Sehr viel, denn Christian Fischers Enkel Helmut Fischer hat alles zusammengetragen, was er über die Geschichte seines Großvaters als Soldat im Ersten Weltkrieg finden konnte – auch wenn die Informationen spärlich waren. Trotzdem hat sich Helmut Fischer akribisch in das hundert Jahre alte Geschehen eingearbeitet. So berichtet er vom Reserveinfanterieregiment (RIR) 120, dem sein Großvater angehörte. Überwiegend an der Westfront eingesetzt, ging es für das Regiment – und damit auch für Christian Fischer – im Juli 1915 in den Osten. „In den schweren Kämpfen bei Labenskoje, als die 120er acht schwere Angriffe der Russen abwehren mussten, ist der Ähne schwer verwundet worden“, schreibt Helmut Fischer in seiner persönlichen Zusammenfassung. Und weiter: „Er kam erst in ein Lazarett in Züllchow bei Stettin, später dann zur Genesung in das Lazarett im heutigen Bürgerhaus in Weilheim.“

So kam also ein Holzmadener mit etwa 30 Jahren zurück in die Heimat, um sich von seinen schweren Verwundungen zu erholen, bevor es hieß, erneut in den Krieg zu ziehen. Aber auch noch bei der Rückkehr Christian Fischers zum Kriegsgeschehen kommt in zwei kurzen, lapidaren Sätzen aus den Aufzeichnungen des Enkels der ganz normale Wahnsinn des Soldatenalltags vor hundert Jahren zum Ausdruck: „Wann der Großvater dann wieder genesen an die Front zurückkam, ist nicht ersichtlich, vermutlich Anfang 1917. Das Regiment war inzwischen am Wytschaetebogen eingesetzt und kämpfte gegen die Engländer.“

Christian Fischer starb 1950 im Alter von 65 Jahren. Er hat den Ersten Weltkrieg von Anfang bis Ende erlebt. Nicht jeder hatte das Glück, den Krieg zu überleben. Der Enkel Helmut Fischer erwähnt unter anderem Givenchy bei Arras, wo das Reserveinfanterieregiment 120 im Mai 1915 eingesetzt war, also wenige Monate vor der Verlegung nach Osten und der schweren Verwundung Christian Fischers: „Bei den schweren Kämpfen von Givenchy ist der Freund meines Großvaters, Otto Kneile, gefallen.

Wie Christian Fischer allerdings mit dem Überleben und den Erinnerungen an seine Kriegserlebnisse fertig geworden ist, darüber ist dem Enkel nur wenig bekannt. Eigene Erinnerungen hat Helmut Fischer an den Säbel, „der lange am Treppenaufgang zur Bühne hing“ – als Beweis dafür, dass der Großvater als Vize-Feldwebel ein „Chargierter“ war –, und an die Soldatenbilder auf der Kommode der Großeltern. Auch ein Postkartenalbum mit „Fotos aus dem Soldatenleben vom Ähne“ habe sich erhalten, aber leider sei kaum etwas beschriftet gewesen. Anhand der Motive auf den Bildern, anhand der schriftlichen Informationen der Feldpost und anhand eines Buchs über das RIR 120 hat sich Helmut Fischer die Bruchstücke aus der Weltkriegsgeschichte seines Großvaters zusammengeklaubt und daraus das vorhandene Mosaik gefertigt.

Über die Heimkehr Ende 1918 fehlen Helmut Fischer die direkten Informationen über den Großvater. In diesem Fall hilft die Regimentsgeschichte, deren aktiven Teil der Enkel in seinen Aufzeichnungen folgendermaßen enden lässt: „Am 11. November kam die Nachricht vom Waffenstillstand. Trotz Revolution und anderer widriger Umstände fand der Rückzug des Regiments in die Heimat einigermaßen geordnet statt. Am 2. Dezember wurde der Rhein überschritten, am 23. Dezember waren dann endlich alle Soldaten des RIR 120 daheim in Esslingen angelangt.“

Somit war für die 120er – und mutmaßlich auch für den Holzmadener Christian Fischer – der Weltkrieg doch noch an Weihnachten zu Ende gegangen. Aber eben nicht 1914, sondern erst vier Jahre später, 1918. Und der darauffolgende Frieden war auch längst nicht so idyllisch und nicht so heroisch wie die Idee von jenem kurzen Weihnachtsfrieden an Teilen der Westfront Ende Dezember 1914.

Der Holzmadener Ähne im Weilheimer Lazarett
Der Holzmadener Ähne im Weilheimer Lazarett