Lokales

Der lange Weg von der Krankheit zur Normalität

Die Kirchheimerin Petra Stölzle hat ihre Leukämieerkrankung seit mehr als fünf Jahren überwunden

Petra Stölzle hält ihre Katze im Arm: Heute ist das wieder eine ganz selbstverständliche Szene. Nach der Stammzellentransplantat
Petra Stölzle hält ihre Katze im Arm: Heute ist das wieder eine ganz selbstverständliche Szene. Nach der Stammzellentransplantation vor sechs Jahren waren Haustiere aber vorerst ausquartiert. Viel zu groß wäre sonst die Gefahr einer Infektion gewesen.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Vor sechs Jahren wurde Petra Stölzles Leben von einem Tag auf den anderen völlig umgekrempelt: Nachdem sie schon ein halbes

Jahr zuvor immer müde und appetitlos gewesen war und ziemlich abgenommen hatte, brach sie eines Morgens, Ende April 2007, bewusstlos zusammen. Beim Sturz an der Treppe hatte sie Glück, dass sie sich nicht verletzte. Noch größeres Glück aber hatte sie, weil Martin – ihr Mann – noch nicht zur Arbeit gegangen war. So konnte er sie ins Krankenhaus bringen.

Ihre Blutwerte waren so schlecht, dass es die Ärzte gar nicht fassen konnten. Nach der raschen Verlegung nach Stuttgart zeigte sich lediglich, dass die Werte in der Zwischenzeit noch um einiges schlechter geworden waren. „Dass es sich um Leukämie handeln musste“, war klar, erinnert sich die Kirchheimerin heute an die damalige Diagnose, „es war nur noch nicht klar, um welche Art von Leukämie.“ Erst tags darauf lautete die Diagnose: „akute lymphatische Leukämie“ (ALL). Behandelt wurde diese Krankheit vom ersten Tag an mittels Chemotherapie.

An diese Therapie hat Petra Stölzle die schlechtesten Erinnerungen: „Ich habe ein halbes Jahr lang nur gespuckt, achtmal am Tag. Ich wurde künstlich ernährt, und irgendwann wurden auch die Tabletten auf flüssig umgestellt und intravenös verabreicht.“ Gewogen hat sie nur noch 45 Kilogramm.

In dieser Zeit wurde intensiv nach einem Stammzellenspender gesucht. Ein Pfleger machte ihr Mut: „Nach drei Monaten hat jeder einen Spender.“ Bei Petra Stölzle war das aber nicht so. Es dauerte viel länger, bis ihr schließlich ein Arzt an der Uni-Klinik in Tübingen eine Liste von zehn möglichen Spendern präsentierte. Ganz oben stand eine Frau aus den USA, bei der die Übereinstimmung 90 Prozent betrug. „Es hieß aber, wir müssen noch warten, weil es einen Mann aus Italien gab, bei dem es zu 100 Prozent passen würde. Der war aber gerade im Urlaub und konnte noch nicht gefragt werden.“

Tatsächlich hat sich dieser Mann nach der Rückkehr aus dem Urlaub zur Stammzellenspende bereiterklärt. Und nicht nur das: Er hat sich sogar dazu entschieden, das entsprechende Material aus dem Beckenkamm entnehmen zu lassen, anstatt die Stammzellen bei einer Art Blutwäsche herausfiltern zu lassen. Petra Stölzle: „Das ist für den Spender unangenehmer, für den Patienten aber sinnvoller, weil die Anwachsrate besser ist.“

Kennengelernt hat Petra Stölzle ihren anonymen Lebensretter übrigens nicht. Sie hat ihm zwar eine Dankeskarte übermitteln lassen, er hat aber nicht darauf geantwortet.

Der Spender aus Italien will die Anonymität wahren

„Es gibt Spender, die nicht wollen, dass ihnen der Dank nachgetragen wird“, sagt die 46-Jährige, die außer den Stichworten „Italiener“ und „männlich“ nur noch weiß, „dass er jünger ist als ich“ – Jahrgang 1974. „Für mich ist das so in Ordnung“, stellt sie fest, „ich muss mich auch nicht unbedingt medienwirksam Arm in Arm mit ihm fotografieren lassen.“

Die Transplantation hat Petra Stölzle geholfen, die Krankheit bis zum heutigen Tag zu überwinden. Eine längerfristige Aussage ist zwar noch nicht möglich: „Man sagt, dazu müsse man zehn Jahre lang rezidivfrei sein.“ Aber auch wenn die zehn Jahre ohne Rückfall noch nicht ganz beendet sind, habe ihr ein Arzt schon vor ungefähr zwei Jahren einmal gesagt: „Sie sind eine langweilige Patientin.“ Gemeint hat er damit, dass sich bei den bisherigen Nachkontrollen keinerlei Auffälligkeiten ergeben haben und dass alles glatt ging.

Das heißt aber nicht, dass vom Zeitpunkt der Transplantation an alles in bester Ordnung war. „Nach der Transplantation ging es mir gar nicht gut“, erzählt Petra Stölzle. Besonders schlecht in Erinnerung hat sie eine Kur im Allgäu. Vor der Kur war sie eine Woche lang zu Hause. Für diesen Aufenthalt mussten die Haustiere ausquartiert werden, Gardinen und Teppiche waren zu entfernen, und selbst Staubsaugen war verboten. Petra Stölzle trug zudem Mundschutz, damit eben kein noch so kleines Partikel zu einer gefährlichen Infektion führen konnte. Umso größer war deshalb der Schock bei der Anmeldung im Kurhaus: Eine Frau war beim Saugen, und überall lagen Teppiche. Petra Stölzle hat daraufhin den größten Teil der Kur in ihrem Zimmer verbracht – ohne Teppich – und nach drei Wochen eine Verkürzung in Anspruch genommen. Zwei Jahre später dagegen hätte sie ganz gerne noch einmal eine Kur angetreten, weil sie spürte, dass es ihr jetzt gut tun würde. Ihre Krankenkasse hat es allerdings anders gesehen und diese gewünschte Kur nicht genehmigt.

Mit der Besserung jedenfalls ging es erst einmal nur schleppend voran. Und eigentlich schien sich auch nach der Transplantation nichts wirklich gebessert zu haben: Petra Stölzle konnte kaum etwas essen, geschweige denn das Essen bei sich behalten. „Dann habe ich für mich beschlossen, dass ich meine Tablettenration halbiere und nur noch abends welche einnehme. Morgens habe ich die Tabletten einfach weggelassen. Danach konnte ich tagsüber essen und es bei mir behalten. Daraufhin habe ich auch wieder zugenommen.“

Natürlich will Petra Stölzle nicht behaupten, dass Patienten grundsätzlich den Anweisungen der Ärzte zuwiderhandeln sollen. In ihrem Fall aber war die Reduzierung der Arznei wohl tatsächlich entscheidend. „Manchmal muss man auch für sich selbst Verantwortung übernehmen“, sagt sie zu diesem Thema. Als sie dieses eigenmächtige Handeln einige Zeit später dann doch einem Arzt „beichtete“, habe dieser sein stillschweigendes Einverständnis sig­nalisiert – mit dem Satz: „Ach, wissen Sie, das habe ich schon gemerkt, weil Sie nicht so viele Rezepte gebraucht haben.“

Ohnehin beansprucht Petra Stölzle nicht für sich, dass sie fortan allen Menschen gute Ratschläge geben kann, wie sich eine Krankheit besiegen lässt. „Jeder Fall ist anders, und jeder ist einzigartig“, sagt sie. Deshalb lässt sich auch aus ihren Erfahrungen nicht verallgemeinernd auf alle anderen schließen. Ihr selbst hat es zumindest geholfen, dass sie sich gar nicht so sehr mit allen möglichen anderen Fällen beschäftigt hat. Sie sieht die Gefahr, dass man sich bei zu vielen anderen Beispielen nur selbst verrückt macht oder verrückt machen lässt. Dabei könnten sowohl falsche Hoffnungen als auch falsche Ängste entstehen.

Bei Petra Stölzle zumindest waren Ängste nicht das große Problem. Als gläubige Christin und Mitglied der Kirchheimer Baptisten-Gemeinde habe sie immer wieder gesagt: „Gott, wenn meine Zeit da ist, dann nimm mich zu dir.“ Das habe ihr eine ganz eigene, neue Freiheit gegeben. Wenn sie im Nachhinein für ihren erfolgreichen Kampf gegen die Krankheit bewundert wird, sagt sie nur: „Ich habe nicht gekämpft, ich konnte gar nicht mehr kämpfen.“

Die Hilfe durch den Glauben, durch die Familie – den Ehemann und die drei Töchter –, durch Freunde und Bekannte, durch Gebete in der Gemeinde und durch zahlreiche Unterstützungsaktionen rund um die Typisierung im Juli 2007 kann sie gar nicht hoch genug einschätzen. Und trotzdem spricht Petra Stölzle auch von dunklen Tagen und schweren Zeiten, die sie zu überstehen hatte. Was ihr dabei ebenfalls geholfen hat, das war die Kraft der Musik. In ihrem Fall waren es vor allem christliche Lobpreislieder, also eine Verbindung von Glauben und Musik. Falls sie anderen Menschen doch etwas mit auf den Weg geben sollte, würde sie unbedingt dazu raten, in den vielen Stunden und Tagen der Einsamkeit und der Dunkelheit Zuflucht bei der jeweiligen Lieblingsmusik zu suchen.

Trotz der Erfolgsgeschichte, trotz der seit mehr als fünf Jahren überwundenen Leukämie ist Petra Stölzles Leben nicht mehr so, wie es vor der Erkrankung war. Was sie vorher beruflich gemacht hatte – Gärten und Landschaften zu gestalten –, das kann sie seither nicht mehr machen. Einerseits ist es körperlich sehr anstrengend, und andererseits ist ihr auch die entsprechende Kreativität für den Garten abhanden gekommen, sagt Petra Stölzle. Das hat sie gemerkt bei einigen wenigen Versuchen, die sie zur Rückkehr in den Beruf unternommen hatte.

An der Kreativität als solcher fehlt es ihr aber nicht. Sie hatte sogar aus einer Not eine Tugend gemacht und nach dem therapiebedingten Haarausfall ihre eigenen Mützen gehäkelt oder gestrickt. „Daraus ist jetzt ein bisschen was geworden. Ich war mit den Mützen schon auf ein paar Märkten. Das macht Spaß und überfordert mich auch nicht.“ Ihr Schwachpunkt ist nämlich nach wie vor der Magen, und der würde sie jede Überforderung sofort spüren lassen. Die Hoffnung auf eine „richtige“ Arbeit hat sie noch nicht aufgegeben: „Eine kleine Stelle würde mich schon reizen.“ Dazu sei es bis jetzt eben noch nicht gekommen – von ehrenamtlicher Arbeit in der Gemeinde abgesehen. Aber auch in dieser Hinsicht weiß Petra Stölzle, worauf es ankommt. Das hat sie durch ihre Krankheit gelernt: „Man muss Geduld mitbringen.“

Geduld braucht es also nicht nur bis zu dem Moment, in dem ein passender Stammzellenspender gefunden ist, sondern weit darüber hinaus. Bei der Typisierungsaktion für Petra Stölzle in Kirchheim war unter 1 100 Personen niemand gefunden worden, der ihr hätte weiterhelfen können. Der Spender kam dann ja aus Italien. Dennoch war die Aktion im Steingau-Zentrum nicht vergebens: Petra Stölzle weiß von mindestens drei Fällen, in denen Menschen, die sich wegen ihr hatten typisieren lassen, anderen Leukämiekranken irgendwo auf der Welt helfen konnten. Auch das ist eine Erfolgsgeschichte.