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Die „Verlängerte Hahnweidstraße 60“

Im Talwald ging bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein Kleemeister seiner ebenso wichtigen wie anrüchigen Arbeit nach

Kirchheim. Im Februar 2011 bemühte sich der Verschönerungsverein Kirchheim, im Talwald westlich der „Schindereiche“ die Wüstungsspuren der abgegangenen Kleemeis­terei freizulegen. Deren Adresse lautete bis zu ihrer Auflösung 1923 „Verlängerte Hahnweidstraße 60“. Nachdem mit Unterstützung der Forstverwaltung dort das Gestrüpp beseitigt und der Boden oberflächlich abgeräumt war, wurden die Ruinen der 1923 aufgegebenen Kleemeisterei wieder sichtbar, so wie sie Forstdirektor Gerhard Haug bei Talwaldexkursionen vor 40 Jahren vorführte.

Man sieht die Reste einer gemauerten Hofeinfriedung, die früher dazu diente, den Tierfriedhof – den „Wasen“ – wegen Seuchen- und Ansteckungsgefahr hermetisch abzuriegeln. Von seiner Aufforstung wird 1923 trotz Aufgabe der Kleemeisterei und Abbruch der „Fallhütte“ wegen fortbestehender Milzbrandgefahr abgeraten. Deshalb beschloss man, „Mauer und Wasenplatz bis auf Weiteres zu erhalten“. Zu sehen sind außerdem die Trümmer der 1835 erbauten fünf mal fünf Meter großen „Fallhütte“. Sie ist heute teilweise mit Bauschutt überdeckt.

Vorhanden ist weiterhin der Sockel eines kleinen Nebengebäudes, drei mal vier Meter, an der Südostseite der „Fallhütte“. Dieser Gebäudeteil entspricht einem 1923 erwähnten Schuppen. Bei genauerer Betrachtung der Grundmauern entdeckt man zwei verschiedene Bauphasen: eine vermutlich ältere, tie­fer­lie­gende mit sorgfältig gesetzten Angula­ten­sandsteinen. An­gulaten­sand­stein­mauerwerk fand man auch unter dem Fundament der Außenmauer an der Nordecke des „Hofraums“. Auf diesen Natursteinfundamenten stehen heute die Reste der bröckeligen Beton- und Backsteinmauern der Kleemeisterei von 1835.

In der Südecke des „Hofraums“ gibt es eine Brunnenkammer, die von zwei sorgfältig bearbeiteten Stubensandsteinplatten abgedeckt ist. In der Mitte dieser Platten sieht man die Standrillen für einen quadratischen gusseisernen Brunnenstock, der 1923 zusammen mit einem gestohlenen Brunnenschwengel erwähnt wird. Damit dieser Brunnenstock nicht auch noch entwendet würde, ordnete das Stadtbauamt damals an, ihn ins städtische Magazin zu bringen.

Den einstigen Brunnenschacht in der Nordecke des „Hofraums“ haben viele Zeitgenossen noch vor 30 Jahren gesehen. Sie bezeugen ein eindrucksvolles Natursteinmauerwerk. Der Schacht war kreisrund, 1980 noch etwa zwei Meter tief und maß im Durchmesser knapp einen Meter. Die Brunnenöffnung lag auf Bodenniveau. Um Kinder und Pilzsucher nicht zu gefährden, wurde er vor etwa 20 Jahren im Auftrag der Stadtverwaltung so erfolgreich mit lehmigem Schotter verfüllt, dass seine genaue Lage nicht mehr zweifelsfrei zu ermitteln war. Zu diesem Brunnenschacht passt eine Notiz des Stadtbauamts von 1923, nach der Albert Schilling, der letzte Kleemeister, einen guss­eisernen Schachtdeckel aus der Kleemeisterei als gestohlen meldete.

Das Land südwestlich des „Hofraums“ wurde 1922 zusammen mit der Kleemeisterei an die Stadt Kirchheim verkauft. In der Karte der „Gemeinde-Waldungen von Kirchheim“ 1871 ist es als unbewaldete Fläche südwestlich der „Fallhütte“ erkennbar. 1923 wurde es zur Aufforstung freigegeben. Noch heute weist die dortige Baumvegetation Unterschie­de zur Nachbarschaft auf. Ratschreiber Schönleber beglaubigte 1922 mit seiner Unterschrift, dass alle aufgezählten Teilflächen der Kleemeisterei auf einen 1835 getätigten Verkauf der Stadt Kirchheim an die Amtskörperschaft zurückgehen.

Der 1922 nur knapp angesprochene Immobilienbestand der Kleemeisterei wird detailliert in einem Übergabeprotokoll beschrieben, das im Auftrag der (Ober-)Amtspflege am 8. November 1845 angelegt wurde. Anlass war der Umzug des Kirchheimer Kleemeisters Kaltschmid nach Ludwigsburg. Demnach gehörten zur Kleemeisterei im Talwald die Hofmauer mit zwei doppelflügeligen Eingangstüren mit eisernen Beschlägen, die Fallhütte mit einem doppelflügeligen Tor für den Wagen, gepflas­tertem Erdgeschoss und Läden aus Tannenholz. Die Wände werden als „Riegelgemäuer“ bezeichnet, also war die Fallhütte ein gemauertes Fachwerkhaus. Über einen Holzstieg gelangte man in das Obergeschoss, das mit einer Falltüre nach unten geschlossen werden konnte. Sechs mit Holzläden verschließbare Fensteröffnungen sorgten im Oberstock für Licht und Luft. Über eine weitere Holzstiege gelangte man in das Dachgeschoss, das mit Dachplatten und Holzschindeln gedeckt war.

Der an die Fallhütte angebaute Schopf kann wohl mit dem eingangs beschriebenen „Schuppen“ gleichgesetzt werden. Er trug ein Pultdach und hatte einen mit Steinplatten ausgelegten Fußboden. Ausdrücklich sind in dem Protokoll noch ein Hundezwinger und ein Stall für (toll-)„wuth­verdächtige Thiere“ erwähnt, die Kaltschmid 1843 auf eigenem Grund und Boden hinter seinem Haus in Kirchheim einrichtete. Das bedeutet, dass er trotz der Einrichtungen im Talwald weiterhin auch bei sich zu Hause in Kirchheim seinem Beruf nachging. Kaltschmid gibt 1845 ausdrücklich zu Protokoll, dass eine amtliche Übergabe der „Fallhütte“ an ihn „gar nie stattgefunden habe“. Deshalb stellt er den Antrag, ihn von der Haftung für etwaige Schäden zu „dispensieren“. Die Fallhütte sei „schon im Anfang [1835] ganz schlecht und unzweckmäßig erbaut worden“. Dem Amtspflegeprotokoll von 1845 ist auch eine lange Mängelliste beigefügt: In der „Fallhütte“ fehlen an vielen Stellen die Riegel an Holzläden und Türen, die „sehr von Ratten und Hunden zernagt“ sind. Es fehlen Dachplatten und Treppenstufen, das Bodenpflaster ist schadhaft. Das Sockelgemäuer ist „theils vom Alter theils von den Ratten sehr beschädigt und von Anfang an schlecht gemacht worden“. „Das Riegelgemäuer an beiden Giebeln ist wie das übrige schadhaft, was zum Theil von der anfänglichen schlechten Beschaffenheit desselben, theils von Vögeln herrühren mag.“

Angesichts der Tatsache, dass diese Fallhütte erst zehn Jahre zuvor von der Amtskörperschaft erbaut worden war, wirkt dies unglaublich. Noch verblüffender ist, dass Kleemeister Kaltschmid durch das Protokoll der Amtsversammlung von jeglicher Haftung freigesprochen wird. Also dürften seine damaligen Argumente überzeugend und zutreffend gewesen sein.

Zu den Aufgaben, auf die Kleemeis­ter Kaltschmid bei seinem Amtsantritt 1834 verpflichtet wurde, gehörten laut Amtsversammlungsprotokoll vom 19. März 1834: „gefallenes“ Großvieh unentgeltlich bei Nacht, „gehörig bedeckt“ und wegen der Ansteckungsgefahr unverzüglich in den ihm unterstellten Orten abzuholen, kein krepiertes Vieh innerhalb Kirchheims zu verwerten, sondern das Abdecken [Häuten] und Begraben der Tiere nur innerhalb des eingefriedeten neuen Kleewasens zu besorgen und „keineswegs im Wald hin- und her zu schleppen“, das Auftreten von Viehseuchen sofort dem Oberamt anzuzeigen, beim Auftreten von (Hunde-)Tollwut sofort einzugreifen, bei Hinrichtungen von Straftätern „die in den einzelnen Fällen zu bezeichnenden Dienste zu leisten“.

Für diese Tätigkeiten wurde dem künftigen Kleemeister ein jährliches Grundgehalt von 200 Gulden zugestanden. Weitere Einkünfte erzielte er aus dem Verkauf der Produkte, die sich aus der Verwertung der Tierkadaver ergeben. Bei der Wahl erhält Johann Carl Friedrich Kaltschmid unter vier Bewerbern die meisten Stimmen der Amtsversammlung und wird Nachfolger des todkranken alten Kleemeisters Johann Christoph Seitz. Dem Amtsprotokoll kann man entnehmen, dass mit der Einrichtung der Klee­meisterei im Talwald keineswegs ein Umzug des neugewählten Kleemeis­ters gefordert wurde. Kaltschmid wäre es wohl auch kaum möglich gewesen, mit seiner achtköpfigen Familie die bescheidene „Fallhütte“ draußen im Talwald zu beziehen.

Noch vor der Wahl des neuen Kleemeisters hatte die Amtsversammlung die Einrichtung einer Kleemeisterei im Talwald beschlossen. Zur Begründung wird aufgeführt, dass der frühere Kleemeister Johann Seitz gegen alle Ordnung verendetes Vieh in seiner Wohnung (Kirchheim, Plochinger Straße 73) zu verarbeiten pflegte, wodurch sich in der ganzen Nachbarschaft ein übler Geruch verbreitete. Aus gesundheitspolizeili­chen Gründen könne dies nicht mehr geduldet werden. Deshalb wird entschieden, auf Kosten der Amtspflege einen Platz für einen „Kleewasen“ (Tierfriedhof) zu kaufen und dafür eine eigene „Fallhütte“ nach Esslinger Vorbild zu bauen. Nach oberamtsärztlichem Gutachten erfordere die geplante Fallhütte einen Sektionsplatz zum Zerschneiden der Kadaver und einen luftigen, heizbaren Raum, in dem die anfallenden Materialien aufgehängt und getrocknet werden können. Die Stadt Kirchheim habe der Amtscorporation für dieses Vorhaben einen Waldplatz angeboten, „welcher schon früher zu diesem Zweck genutzt wurde“. Das Angebot der Stadt Kirchheim wird von der Amtsversammlung „als billig und annehmbar gefunden“, und man beschließt, einen „Kleewasen“ für Stadt und Oberamt einzurichten, in dem nur das, was dem Kleemeister angeliefert wird, begraben werden darf.

Die Finanzierung des Vorhabens erhoffte man sich offensichtlich über einen Verkauf der oberamtseigenen Kleemeisterwohnung und ihrer ­„Appertinenzen“, der dazugehörenden Ländereien. Dieser Finanzierungsplan stößt sofort auf Widerspruch der Stadt, da der Verkauf so nicht vorgenommen werden könne, weil die Stadt Kirchheim Besitzer der Gartenflächen und nur die Kleemeis­terwohnung Eigentum der Amtspflege sei. Die Amtsversammlung stellt daraufhin den Antrag, dass man bei den Baukosten für die Fallhütte eine „Moderation“, eine Senkung, anstrebe und dass man nicht beabsichtige, eine „zierliche, kostspielige . .. Fall­hütte zu errichten, sondern bloß das unabweisliche Bedürfnis des künftigen Kleemeisters“ vor Augen habe.

Die Baukosten für die Kleemeisterei im Talwald beliefen sich laut Amtspflegerechnung von 1835 mit Umzäunung auf 636 Gulden und 50 Kreuzer. Das ist erstaunlich wenig, wenn man bedenkt, dass man 1843 allein für den Ersatz der schadhaften Umzäunung des „Kleewasens“ durch eine Mauer mit 800 Gulden rechnete. Die Aufhellung dieses Preiswunders liefert der Bau- und Mängelbericht von 1845: Man scheint 1835 bewusst keinen Neubau errichtet zu haben, sondern man translozierte wohl nur einen billigen, zum Abriss bestimmten Altbau aus Kirchheim an die Baustelle im Talwald, ein Häuschen, das so vergammelt war, dass es nicht einmal zu einer amtlichen Übergabe an den neuen Kleemeister kam.

Die Amtspflege wollte in erster Linie ja nur verhindern, dass weiter Viehkadaver in der alten Kleemeisterwohnung in Kirchheim verarbeitet wurden. Denn die Kleemeister hatten das Recht, die Knochen der angelieferten Tierkadaver auszukochen und daraus Knochenleim herzustellen. Der Knochenleim der Kleemeister war als Kleber sehr begehrt. Doch die Herstellung von Knochenleim stinkt fürchterlich. Deshalb musste sich Kaltschmid bei seinem Amtsantritt 1834 verpflichten, alle ihm angelieferten Tiere nur noch auf dem dafür bestimmten „Kleewasen“ weiterzuverwerten. Für diesen anrüchigen, unabweislichen Zweck schien der Amtsversammlung die heruntergekommene „Fallhütte“ im Talwald zu genügen.

Weitere Kosteneinsparungen können sich in der amtlichen Formulierung „ein Platz, welcher schon früher zu diesem Zweck genutzt wurde“, verbergen. Im Verkaufsvertrag der Stadt Kirchheim vom 27. März 1835 steht als Verkaufsobjekt: „Waldplaz in dem sogenannten Schelmenwaasse zur Anlegung eines Kleewaasses“. Der Flurname „Schelmenwasen“ lässt sich bis ins 16. Jahrhundert zurückverfolgen. „Schelm“ steht in seiner ursprünglichen Bedeutung für „Aas“. Die Verkaufsurkunde zeigt also an, dass auf dem „Schelmenwasen“ schon viel früher Tierkadaver „eingelocht“ wurden. 1632 wird ein „Cleeackher uunder ­haanweyd gelegen“ erwähnt und 1560 die Kirchheimer „Cleewiesen“. Der hier zitierte Dr. Ernst Ammer kannte die 1923 aufgehobene Kleemeisterei im Kirchheimer Talwald, wusste aber nichts von deren Errichtung 1835. Ammer leitet in seiner Dissertation die „Kleemeisterei“ auf einen „Stockhof“ zurück, den er dort im Talwald lokalisierte. Zusammen mit den Flurnamen Cleeackher, Cleewiesen kam Ammer zu dem (Trug-)Schluss, dass die 1923 aufgegebene „Kleemeisterei“ und der alte „Stockhof“ identisch seien. Eine solche Siedlungskontinuität müsste sich aber sowohl in der Urkarte von 1828 als auch bei Andreas Kießer 1683 kartografisch niederschlagen, was nicht der Fall ist. Der „Stockhof“ dürfte demnach spätestens nach seiner letzten Erwähnung 1632 abgegangen sein, 1640 ist nur noch ein „Höltzlin im Stockhof“ erwähnt.

Damit lassen sich drei Hinweise auf einen Vorgängerbau der Kleemeisterei von 1835 aufzählen: das Übergabeprotokoll von 1834, nach dessen Wortlaut der Platz „schon früher zu diesem Zweck genutzt wurde“; die Kirchheimer Flurnamenforschung 1935, nach der im Gelände der 1923 aufgegebenen Kleemeisterei eine Vorgängersiedlung, der „Stockhof“ (1632), zu lokalisieren sei. Gleichzeitig weist das Flurnamenbündel „Schelmenwiesen“, „Schelmensee“, „Kleewiesen“ und „Klee­acker“ auf bis ins Spätmittelalter zurückreichende Tätigkeiten von Kleemeistern südöstlich der „Hahnweide“ hin. Deren Gerätestützpunkt – so Ernst Ammer – könnte der abgegangene „Stockhof“ gewesen sein; die Aufräumarbeiten des Verschönerungsvereins innerhalb des Areals der Kleemeisterei von 1835 im Februar 2011: Es traten Natursteinmauern zu Tage, die teils willkürlich mit Beton- und Ziegelmauern überbaut wurden.

Angesichts der belegbaren Bemühungen der Amtsversammlung um Kosteneinsparungen ist es deshalb denkbar, dass vorhandene Siedlungsrelikte wie ein Brunnenschacht und brauchbare alte Fundamente ausschlaggebend für den Erwerb dieses „Waldplatzes“ für die Errichtung einer Kleemeisterei 1835 gewesen sind.