Lokales

Eigenarbeit statt Erpressung

Die Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer plädiert für mehr Unabhängigkeit

Ein Wissenschaftler sorgt für tödliche Rüstung oder mit Einweg-Saatgut für Hunger. Wie will er sein Lebenswerk vor dem Jüngsten Gericht rechtfertigen? Die Maßstäbe auf Erden sind zum Ärger der Erziehungswissenschaftlerin Marianne Gronemeyer etwas anders. „Solche Menschen genießen hohes Ansehen.“

Peter Dietrich

Kirchheim. Im Rahmen der Vesperkirche 2015 und der „Kirchheimer Reihe“ des Evangelischen Bildungswerks war die Professorin in die Auferstehungskirche gekommen, um sich mit guter Arbeit zu beschäftigen. „Wer arbeitet, sündigt“: Der Titel ihres Vortrags war ebenso mutig, wie manche These – auch ihrer eigenen Ansicht nach – anstößig. „Ich fürchte, gute Arbeit ist auf der Liste aussterbender Arten“, sagt Gronemeyer. Gute Arbeit dürfe nicht schaden, sondern müsse nutzen. „Es gibt unterschiedliche Mischungen, Arbeit kann unterschiedlich gut oder schlecht sein.“ Vielfach seien die schädlichen Nebenwirkungen nicht mehr so harmlos wie die sprichwörtlichen Späne beim Hobeln.

In der Schweiz sah Gronemeyer zu, wie beim Bäcker ein Törtchen für 4,50 Franken, das sie gerade noch kaufen wollte, pünktlich zum Feierabend zur Mülltütenfüllung wurde. Ihr Entsetzen wich dem Mitleid mit der Verkäuferin: „Was richtet diese Arbeit mit den Leuten an?“

Schmutz entstehe durch Deplatzierung: Ein Spiegelei auf dem Teller sei lecker, nicht so auf dem Sofakissen. „Gute Arbeit hat die Kraft, die Potenziale eines Menschen zu entfalten, sie lässt reife Persönlichkeiten entstehen“, betonte Gronemeyer.

Das Verhältnis zur Arbeit sei stark am Umgang mit der freien Zeit zu erkennen. Da sitze keiner mehr nach getanem Tagwerk mit dem Pfeifchen unter dem Baum, stattdessen folge das dumpfe Abschlaffen oder die Fortsetzung der Arbeit mit anderen Mitteln. Oder weiche die Ruhe nach der getanen Arbeit der Fortbildung oder wildem Konsum?

„Uns wird eingebläut, dass die Arbeit verehrungswürdig sei“, kritisierte Gronemeyer. „Statt gegen die Arbeitssucht anzugehen, wird die Arbeit heiliggesprochen.“ Dennoch sei sie eine Last: „Leben findet außerhalb der Arbeit statt, wenn es denn stattfindet.“ Sei der karge Lohn ein Ausgleich für entgangene Lebenszeit? Warum werde Lohnarbeit nicht geächtet, wie einst die Sklavenarbeit?

Oder gelte die Verehrung nur dem Lohn, nicht der Arbeit selbst? Aber warum löse die Arbeitslosigkeit dann dramatische Sinnkrisen aus?

Die Werbung kennt die Verknappungsstrategie nach dem Motto „nur für kurze Zeit“. Das gelte auch für die Arbeit: „Sie ist künstlich verknappt und wird immer rarer. In unserer Gesellschaft steht alles, was knapp ist, in höchstem Ansehen.“ So würden Arbeitsplatzbesitzer zum Teil der Elite. Dabei sei es einst umgekehrt gewesen: Bürger der Stadt und politischer Mitbestimmer durfte nur werden, wer es sich leisten konnte, nicht zu arbeiten. „Wir hätten allen Grund, die Nichtarbeitenden zu ehren, sie schädigen weniger als andere.“ Wie wäre es, fragte Gronemeyer, wenn Arbeitslose, gemeinsam mit den Alten, eine neue kritische Öffentlichkeit bilden würden, als große Koalition der Nicht-Erpressbaren?

Immer mehr Dienstleistungen machten die Menschen abhängig. Doch der Umstieg zur Eigenarbeit sei nicht einfach. „Sie wird durch Billigprodukte ins Unrecht gesetzt, man kann durch Eigenarbeit kaum noch Geld sparen. Wo bleibe angesichts eines Milchpreises, von dem kein Bauer leben kann, der Konsumentenstreik: „Wir kaufen diese Ware nicht, sie ist zu billig.“ Eigenarbeit dürfe nicht mit Schattenarbeit verwechselt werden, die enorm zunehme: Um gekaufte Waren in ein nutzbares Gut zu verwandeln, sei immer mehr der Kunde gefragt. Er werde zum Regalbauer, transportiere die Kinder oder gebe Nachhilfe. „Bedenken Sie die Kosten für eine Reklamation im Internet.“ Beim Telebanking müsse man der Bank die Arbeit erleichtern.

Halt, möchte man einwenden, Arbeitsteilung ist doch oft sinnvoll: Backt ein Bäcker 50 Brote statt 50 Leute je ein Brot, spart das viel Zeit und Energie, es muss ja nicht gleich die Backfabrik sein. Aber wie dem auch sei, Geld macht abhängig. „Keine Drohung ist so wirksam wie die mit Arbeitsplatzverlust.“ Gronemeyer empfiehlt deshalb, sich aus dem Würgegriff der großen Erpressung zu befreien. „Je mehr Geld wir brauchen, desto erpressbarer werden wir. Jeder Euro, den wir nicht brauchen, macht uns ein Stück unabhängiger.“

Eigenarbeit könne man aber nicht als Einzelkämpfer angehen. „Wir sind auf andere angewiesen.“ Spätestens bei der nächsten großen Krise seien kleine, selbstversorgende Einheiten wichtig. „Das Problem ist, wir verlieren unsere Fähigkeiten von Generation zu Generation immer mehr.“ Wer in der verwalteten Welt Platzangst entwickle und entkommen wolle, werde schnell einverleibt. „Er muss es am besten heimlich versuchen.“