Lokales

„Es darf mir gut gehen“

Die Al-Anon-Gruppe Kirchheim feiert in diesem Monat ihr 25-jähriges Bestehen

Es ist schwer, zuschauen zu müssen, wenn es mit einem geliebten Menschen bergab geht. Deshalb wurde 1987 die Al-Anon-Familiengruppe für Angehörige und Freunde von Alkoholikern in Kirchheim gegründet.

Die Al-Anon-Gruppe Kirchheim hilft Angehörigen und Freunden von Alkoholikern.Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques
Die Al-Anon-Gruppe Kirchheim hilft Angehörigen und Freunden von Alkoholikern.Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Die Mitglieder der Al-Anon-Familiengruppe beginnen ihr wöchentliches Treffen in der Kreuzkirche, indem sie reihum ihre Präambel und die zwölf Schritte und Traditionen der anonymen Gruppen vorlesen. Meist bewegt sich die Gruppengröße zwischen acht und zwölf Männern und Frauen. Gleich zu Anfang zieht das Mitglied, das an diesem Tag zuerst da ist, alle Vorhänge zu und schließt die Tür. Kein Angehöriger soll sich beobachtet fühlen. Anonymität ist wichtig, damit sich vor allem neue Mitglieder überhaupt trauen, zum Treffen zu erscheinen.

Jedes Mal übernimmt ein anderes Mitglied die Rolle des Gesprächsleiters. „Wer gerade Lust hat, leitet an. Wir sind alle gleich“, erklärt die heutige Gesprächsleiterin. Anschließend liest sie den Tagesspruch aus einem Al-Anon-Buch vor. Das Thema: „Eile mit Weile“ – einer von vielen Grundsätzen der Gruppe. „Nur ein Tag nach dem anderen – Im Zweifelsfalle nicht – Mach‘s nicht kompliziert – die Al-Anon-Slogans sind wie Werkzeuge“, erklärt eine Teilnehmerin. Die Mitglieder der Gruppe sind der Meinung, dass das Programm ihnen sogar gut tun würde, wenn sie keinen Alkoholiker in ihrer Umgebung hätten. „Ich habe bei Al-Anon Geduld gelernt“, lobt ein anderes Mitglied. Man müsse dabeibleiben, auch wenn man im Moment keine Verbesserung spüre. Im Rückblick sei die Verbesserung offensichtlich.

Die Al-Anon-Gruppe geht nach denselben zwölf Schritten vor, wie die Anonymen Alkoholiker. Wie ihre alkoholsüchtigen Angehörigen müssen die Mitglieder zuallererst anerkennen, „dass man dem Alkohol gegenüber machtlos ist“ und zugeben, dass man sein tägliches Leben nicht mehr bewältigen kann. Alkoholismus wird hier als eine lebenslange Krankheit behandelt. Der Einfluss aufs Leben bleibt bestehen, Rückfälle passieren. So versteht auch die Al-Anon-Familiengruppe sich selbst als ein Lebensprogramm. „Ohne die Gruppe könnte ich nicht mehr leben“, erzählt ein Mitglied.

Wer beim Meeting der Al-Anons etwas sagen will, meldet sich und beginnt jedes Mal mit: „Ich bin xy und Al-Anon“. Unterbrochen wird nicht. So sind Denkpausen und kurze ruhige Momente möglich. Erst wenn der Sprechende eindeutig zu verstehen gibt, dass er fertig ist, kann der nächste sich melden.

Eine grundsätzliche Regel der Gruppe heißt: Es gibt keine Ratschläge, keine Diskussionen, keine Antworten auf Fragen. Jeder spricht nur für sich selbst. Es gibt kein „du solltest“, sondern nur ein „bei mir war es so, ich habe es so gemacht“. Die Betroffenen sollen ihre eigenen Schlüsse ziehen. Das ist aber nicht, was sich die meisten Neuankömmlinge von der Selbsthilfegruppe erhoffen: „Ich wollte Hilfe, die sollten mir sagen, was ich machen soll“, erzählt eine Teilnehmerin. Aber die Al-Anons sind überzeugt: „Man kann nur sich selbst verändern.“

Das schreckt viele ab, die zum Treffen kommen und Hilfe suchen. Sie haben ja kein „Problem“, sondern einer ihrer Angehörigen hat eins. Dass man an sich selbst arbeiten soll, darauf sind die Neuen oft nicht vorbereitet.

„Die meisten kommen erst, wenn sie sehr verzweifelt sind“, erzählt eine der Gründerinnen der Kirchheimer Gruppe. Die Gründe, die Menschen zu Al-Anon führen, sind vielfältig. „Oft kommt vom trinkenden Angehörigen Widerstand“, erzählt ein Mitglied.

Der Alltag kann für Alkoholiker und ihre Angehörigen zur Prüfung werden. „Ich glaube, wir leben in einer alkoholischen Gesellschaft“, sagt eine Al-Anon. Das Thema begegne einem überall: Soll ich mit Sekt anstoßen, wenn er nicht darf? Ist Wein in der Soße im Restaurant? Mit solchen Fragen müssen sich die Al-Anons oft quälen.

Die Gesprächsleiterin liest einige Passagen aus einem Buch vor, die die Erfahrungen anderer Al-Anons beschreiben. Dann können die Versammelten sich dazu äußern. „Ich bin immer froh, wenn ich sehe, dass andere das alles auch nicht perfekt können“, sagt eine Besucherin.

Die Selbsthilfegruppe will ihren Mitgliedern beibringen, „Nein“ zu sagen. Die Ehefrau eines Alkoholikers erinnert sich lebhaft: „Ich bin aus dem Schlafzimmer ausgezogen und habe ihn sich selbst überlassen.“ Sie habe durch Al-Anon die Kraft gefunden, konsequent zu bleiben und keinen Alkohol mehr im Haus zu dulden. Diese Entwicklung stieß auf weit mehr Widerstand als das vorherige „schweigend Ertragen“. Al-Anons werden dazu angehalten, sich selbst zu schützen. „Wir lernen, dass es uns gut gehen darf“, erzählt die Teilnehmerin.

Die Mitgliedschaft bei Al-Anon ist unabhängig von der eigenen Religion. Trotzdem ist Spiritualität ein Grundpfeiler, auf dem die Gruppe aufbaut. Ohne eine „höhere Macht“, glauben die Al-Anons, könne man seine geistige Gesundheit nicht wiederherstellen. Diese Macht darf jeder so verstehen, wie er es empfindet. „Manche finden erst durch die Gruppe zum Glauben“, erzählt ein Mitglied, „und wer das nicht tut, der erkennt oft die Gruppe als eine Art höhere Macht an.“

Unabhängig von den Treffen der Familiengruppe haben Al-Anons sogenannte „Sponsoren“, also Menschen, die in der Entwicklung durch die zwölf Schritte der Gruppe bereits weiter sind als sie selbst. Mit ihren Sponsoren haben die Mitglieder der Gruppe regelmäßig Kontakt außerhalb der Gruppentreffen.

Al-Anon nimmt kein Geld von außen an und erhebt keine Mitgliedsbeiträge. Den kleinen Unkostenbeitrag, den die Kirchheimer Gruppe an die Gemeinde der Kreuzkirche für die Nutzung des Raums zahlt, finanziert sie aus freiwilligen Spenden ihrer Mitglieder. Dadurch will die Selbsthilfegruppe unabhängig bleiben. Die Gruppe geht immer wieder auch an Schulen und informiert dort das Lehrpersonal. Ärzte, Lehrer oder Sozialarbeiter kommen manchmal zu den offenen Meetings der Gruppe, um sich über Alkoholismus und seine Auswirkungen auf Angehörige zu informieren.

Später zieht jeder der am Tisch Versammelten ein Stäbchen aus einem Becher. „Gesundheit“, „Anonymität“, „Heute“, „Entspannen“, „Kontrol­lieren?/Liebe“, „Um Hilfe bitten“ – solche Aufschriften sind auf den kleinen Hölzern zu lesen. Dann sagt jedes Gruppenmitglied etwas zu seinem Stichwort und legt es zurück.

Abschließend halten die Al-­Anons­ sich an den Händen. Sie bilden einen Kreis und sprechen gemeinsam den „Gelassenheitsspruch“: „Gott gebe mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Danach sagen sie: „Gute 24 Stunden“.

24 Stunden – das ist ein weiterer Slogan der Al-Anon-Gruppe. Die Al-Anons nehmen sich mit diesem Spruch jeden Tag aufs Neue vor: „Nur heute muss ich durchhalten“, so wie ihre Angehörigen sich vornehmen „nur heute trinke ich nichts“. Das Letzte, was die Gruppe gemeinsam sagt, bevor sich die Männer und Frauen wieder auf den Heimweg machen, ist: „Komm wieder, es funktioniert“. Und das spricht wohl für sich.

 

Betroffene können sich unter der Telefonnummer 0 70 21/8 58 59 oder im Internet auf www.al-anon.de informieren. Die Selbsthilfegruppe trifft sich mittwochs ab 20 Uhr in der Kreuzkirche, Limburgstraße 65, in Kirchheim. Die Gruppe für Kinder und Jugendliche ab dem Grundschulalter (Alateen) trifft sich jeden ersten und dritten Dienstag im Monat. Zum „Geburtstagsmeeting“ der Gruppe am Mittwoch, 15. August, ab 19 Uhr sind auch Interessierte ohne einen Alkoholiker in ihrem näheren Umfeld eingeladen.