Lokales

Geschichten voller Widerstand

Christina Brudereck und Benjamin Seipel begeisterten im Kirchenzelt der Zeltmission

Kirchheim. Ihre Reiselust, sein Klavierspiel, ihr Wortwitz und sein Gesang – das und mehr steckt in der Performance des Essener Duos

HeinZ Böhler

„2Flügel“. Christina Brudereck und Benjamin Seipel begeisterten am Donnerstag abend mit ihren Texten und Liedern im Kirchenzelt der Zeltmission, das derzeit im Ötlinger Rübholz aufgebaut ist und an diesem Abend nicht nur Beifallsstürmen ausgesetzt war.

Zwei Flügel, legt der Titel nahe, sollten auf der Bühne stehen. Es war aber nur einer da. Und an dem saß mit Benjamin Seipel eine ausgesprochen versierte Tastenfachkraft, die auch noch mit ihrem Gesang zu begeistern wusste. Christina Brudereck dagegen hatte ein Pult vor sich und benutzte das Mikrofon lediglich zum Hineinsprechen, was jedoch, wie sich schnell herausstellte, für die Vorstellung des Duos nicht wirklich unwesentlich war. Doch spätestens jetzt fällt der Blick auf ein Bühnenrequisit, das sich fast unauffällig hinter der Rezitatorin seinen Platz gesucht hat: An einem Ständer befestigt hängen zwei Flügel. Aus weißen Federn und Daunen gefertigt, harren sie dort des Engels, der sie vielleicht überziehen und damit einen Passierschein für den Eintritt in höhere Gefilde lösen würde. Man ahnt noch nicht , wem sie passen könnten, aber wenn man sich Christina Brudereck aus der richtigen Perspektive betrachtet. . .

Doch zumindest während der Show von „2Flügel“ zeigt die gelernte Theologin zutiefst menschliche Züge: Aufbegehren gegen Machtmissbrauch, Infragestellen ungerechter Herrschaftsstukturen oder eine entschiedene Stellungnahme gegen Rassismus, Faschismus, Unterdrückung Andersdenkender, Andersgeborener, wird in jedem ihrer Gedichte ihrer Kurzprosatexte und sogar noch in mancher Anekdote deutlich. Dazu lässt Benjamin Seipel, seines Zeichens Dozent an der Kölner Musikhochschule die feinnervigen Finger improvisierend über die Tastatur des (einen) Flügels aus Holz gleiten, wirft hier und dort das eine oder andere Zitat aus den Lieblingsliedern seiner Partnerin anklingen und verarbeitet es weiter oder singt „In meinem Leben“.

„Blumen malen kann ja jeder!“ In Fleece-Jacken und Trekkinghosen hat Christina Berudereck ihre Landsleute erkannt, als sie lange betrachtend vor den sieben mal vier Metern „Seerosen“ von Claude Monet im New Yorker Museum of Modern Art stand. Doch nicht an ihrer Kleidung habe sie die Deutschen Besuchern des „Moma“ erkannt, sondern daran, dass die lieber hinter, als auf das Bild geblickt hätten, darauf, wie es aufgehängt sei, denn das eben sei das Deutsche in de Welt, das dafür sorge, dass so ein Schinken auch ja gerade hängt.

Wen ihr einer mit Astrologie kommt, kommt er ihr gerade recht. Schließlich steht das Schicksal vielleicht nicht in wirklich in den Sternen, kann aber durch Sterne symbolisiert werden. So seien gelbe Sterne auf Millionen deutscher Jacken in Lager gewandert – und dort erloschen.

Nicht alle, gewiss. Ben Seipel lässt die Finger zu einer Mazurka fliegen, während Christina Brudereck die deutsch-jüdische Pianistin Alice Herz-Sommer zitiert: „Chopin hat mich gerettet“, berichtet die mittlerweile 109-jährig in London (über)lebende Insassin des Konzentrationslagers Theresien stadt, „Man muss der Menschheit ihre Taten verzeihen, auch den Deutschen. Vielleicht nur deshalb, weil Beethoven einer der ihren war.“

Ein Rabbi habe auf die Frage, was er als einzig Mögliches aus seinem brennenden Haus retten würde, geantwortet: „Das Feuer.“

Besuch in Israel: Ein Buchhändler, gebürtiger Palästinenser, musste sein Visum für seine Heimat Jerusalem alle drei Monate erneuern, bis es ihm verweigert wurde. Der Mann erstritt sein Bleiberecht vor Gericht und durfte nicht nur für immer in seiner Heimat leben, sondern bekam die israelische Staatsbürgerschaft verliehen: In seinem Laden fand Christina Brudereck ein Büchlein, dessen Titel „How to cure a Fanatic“ sie faszinierte: „Es hat mich interessiert, wie das auf 95 Seiten möglich sein soll.“ Doch möglich sollte fast alles sein: „Stellen Sie sich vor, Frodo sucht ihre Eheringe aus oder der Papst tanzt Pogo mit Pussy Riot. James Bond rast durch die engen Gassen Jerusalems. Gegensätze bedingen, dass es Fürsätze gibt“. „Für Elise“ erklingt näselnd aus Ben Seipels erstem Keyboard, einer mit sieben Jahren geschenkt bekommenen Melodica, auch das ein zum „Fürsatz“ gewandelter Gegensatz.

Charlie Chaplin im „Land der Freien“ verfolgt, konnte sich letztlich doch seinen Oscar dort abholen. Die Mauer in Berlin? Gefallen! Aung San Suu Kyi ist nach 15 Jahren Hausarrest frei und Parlamentsmitglied in Myanmar, wo Mönche beim Versuch eine Buddha-Statue zu versetzen, herausfanden, das sich unter deren tönernem Erdmantel sich eine tonnenschwere Figur aus massivem Gold befand.

Mittlerweile hatte sich über dem „Rübholz“ eine schwarze Wolkendecke wasserschwer unter das Sternenzelt gehängt. Heftiger Wind peitschte, von Blitz und Donner flankiert, vom Himmel fallende Wassermassen gegen die Wände und Kuppel des Kirchenzeltes. Ungerührt setzten die beiden Künstler ihre Performance fort und forderten ihr Publikum auf, sich für Demokratie und Freiheit einzusetzen. Dazu wünschten sie ihm eine Tramp, wie Charlie Chaplin zur Seite und zwei Flügel für die Reise. Doch nicht nur um die großen Themen sollte es gehen. Manchmal steckt das Glück einfach nur in einer Tafel Schokolade. Oder, wie Christina Brudereck, eines Hanges zur Anorexia nervosa sichtlich und hörbar unverdächtig, in der Zugabe zu verstehen gibt: „Mein Idealgewicht ist Gleichgewicht“.