Lokales

„Hagelflieger sind Glaubenssache“

Im Rems-Murr-Kreis werden Wolken mit Silberjodid geimpft

Noch immer fahren Autos mit zersprungenen Scheiben auf den Straßen, und Häuserwände oder Jalousien mit Löchern und Dellen sind ein gewohnter Anblick. Es geht aber auch anders: Im Rems-Murr-Kreis sorgen zwei Hagelflieger dafür, dass keine Geschosse vom Himmel fallen, sondern Regen.

Rainer Schopf impft Gewitterwolken, um Hagelschäden zu verhindern. Vom Stuttgarter Flughafen fliegt er in den Rems-Murr-Kreis.Ar
Rainer Schopf impft Gewitterwolken, um Hagelschäden zu verhindern. Vom Stuttgarter Flughafen fliegt er in den Rems-Murr-Kreis.Archiv-Foto: Peter Dietrich

Kreis Esslingen. Im Mittelpunkt des Interesses steht derzeit der Rems-Murr-Kreis. Zu verdanken hat er dies seinen zwei Hagelfliegern. „Wir sind ohne auffällige Flurschäden aus dem Unwetter Ende Juli hervorgegangen“, sagt Dr. Harald Knitter, Pressesprecher des Rems-Murr-Kreises. Zwei Piloten waren an jenem Sonntag zwischen 17 und 18  Uhr jeweils 45 Minuten über dem Kreisgebiet in der Luft und impften mittels Rauchgasgeneratoren die Wolken mit Silberjodid-Aceton. Durch den Sog an der richtigen Stelle und zum richtigen Zeitpunkt wird dieses chemische Gemisch aus Silber und Jod – ein stark wasseranziehendes Salz – in jene Wolkenhöhe gezogen, um Hagel zu verhindern.

Für diesen punktgenauen Einsatz sind die Piloten auf präzise Wetterdaten angewiesen. Kooperationspartner des Rems-Murr-Kreises ist die Firma Radar-Info in Karlsruhe, die ein neues Gerät in Betrieb genommen hatte, das just am 28. Juli seine Bewährungsprobe bestand. Jeden Morgen bekommen die beiden Flieger mitgeteilt, ob sie in Bereitschaft sein müssen oder nicht. Sind Unwetter zu erwarten, erhalten sie alle fünf Minuten eine Mail. „Sie bekommen im Ernstfall ein Zeitfenster genannt, denn die zwei Piloten sind auf dem Stuttgarter Flughafen ja nicht allein und brauchen ihre Flugfreigabe“, erklärt Georg Enssle, Geschäftsführer der Initiative Hagelabwehr im Rems-Murr-Kreis. Am Dienstag dieser Woche waren die Piloten erneut erfolgreich in der Luft. „Aus Schorndorf sind uns Graupelschauer gemeldet worden. Das zeigt, dass die Impfung gewirkt hat“, so Georg Enssle. Gesundheitsbedenken hat er nicht, die Mengen Silberjodid, die mit den Wassertropfen am Boden ankommen, seien unbedeutend. „Es gibt Jodsalz und wer mit einem Silberlöffel den Kaffee umrührt, ist mehr belastet“, erfuhr Georg Enssle von einem Chemiker.

Die Hagelvorsorge ist nicht billig: 250 000 Euro pro Jahr fallen für die zwei Flieger und die Firma an. Rund 130 Beteiligte teilen sich diese Kosten. „Darunter sind Weinbauern und Landwirte, Weinbaugenossenschaften, zehn Kommunen, Versicherungen und Autohersteller. Daimler ist seit Jahr und Tag dabei“, zählt Harald Knitter auf. Bei den Kommunen – darunter auch die Stadt Esslingen – handelt es sich allesamt um Weinanbaugemeinden. Der Kreis ist auch mit im Boot, bei Georg Enssle laufen alle Fäden zusammen. Seit 1980 gibt es die Hagelabwehr im Rems-Murr-Kreis, damals mit einem anderen Finanzierungsmodell. Die Stadt Stuttgart und das Land Baden-Württemberg zahlten mit. „Das Land hat sich aber irgendwann zurückgezogen“, so Harald Knitter. Statt zwei Hagelfliegern, gab es nur noch einen. Doch schnell wurde der Ruf nach dem Zweiten laut und so entstand die Idee der Solidargemeinschaft. „Die einen zahlen mehr, die anderen weniger“, sagt der Pressesprecher. Damit sowohl die Meteorologen als auch die Piloten Planungssicherheit haben, gibt es Fünf-Jahresabschnitte. „Bis 2016 ist alles in trockenen Tüchern“, kann Georg Enssle vermelden.

Wegen der massiven Schäden – erste Schätzungen der Versicherungen gehen von 500 Millionen Euro allein für den Hagelsonntag aus, ohne Folgeschäden für Wirtschaft, Landwirtschaft, Tourismus, öffentliche Hand und Bürger – gab es zahlreiche Anfragen über das Modell im Rems-Murr-Kreis. „Die Erfolge der Hagelabwehr stoßen auch im Landkreis Heilbronn auf ein immer größeres Interesse“, sagt Harald Knitter. Landrat Johannes Fuchs wandte sich deshalb aus aktuellem Anlass in einem Schreiben an Umweltminister Franz Untersteller und bat darin „ini­tiativ zu werden und den Aufbau einer Hagelabwehr in besonders hagelträchtigen Regionen unseres Landes zu unterstützen und zu fördern“. Gleichzeitig bot er seine Zusammenarbeit an, da der Rems-Murr-Kreis 33  Jahre Erfahrung mitbringt.

Anderer Ansicht ist der Landkreis Esslingen. „Seit Jahrzehnten ist der Hagelflieger Dauerthema bei uns. Wir haben uns breit informiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass es keinen Mehrwert gibt. Für diesen Preis beteiligen wir uns nicht“, sagt Matthias Berg, stellvertretender Landrat. Das Ganze habe sich in zwei Glaubensrichtungen aufgespalten: die einen glauben daran, die andern nicht. Matthias Berg beruft sich auf Jörg Kachelmann. Der hatte sich schon vor Jahren in einem Gastbeitrag im Oberbayerischen Volksblatt über die Hagelflieger lustig gemacht.

In Bezug auf die Unwetter passt die aktuell veröffentliche Studie der Landesanstalt für Umwelt, Messungen und Naturschutz Baden-Württemberg (LUBW) zum Klimawandel. Für die nahe Zukunft wird beispielsweise ein Anstieg der Jahresmitteltemperatur auf circa 9,5 Grad Celcius erwartet. Im Zeitraum von 1971 bis 2000 lag sie bei 8,4. „Regional betrachtet werden wir mit einer deutlich höheren Wärme- und Hitzebelastung rechnen müssen als diese landesweiten Durchschnittswerte vermitteln. Dies gilt zum Beispiel im Rheingraben und im Verdichtungsraum Stuttgart“, erklärt Präsidentin Margareta Barth, auch im Blick auf Gesundheitsvorsorge und Landwirtschaft. Die neue Studie kann Georg Enssle bestätigen. „Die Hagelneigung hat sich in den letzten Jahren verdoppelt. Alles was im Großraum Stuttgart versiegelt ist, heizt sich auf und sorgt vermehrt für die Unwetter“, so der Geschäftsführer.

Wie das schwere Gewitter entstand

Beim Unwetter am 28. Juli zog eine Gewitterfront mit verheerenden Auswirkungen südlich des Schutzgebietes des Rems-Murr-Kreises über die Landkreise Esslingen, Reutlingen und Tübingen bis zur Ostalb. Eine weitere bedrohliche Front zog von südwestlicher Richtung über das Schutzgebiet in Richtung Schwäbisch Hall. „Dies waren zwei getrennte Gewitterzellen, die zu Beginn, was die zentralen Hagelfaktoren, nämlich große Feuchtigkeit und kräftige Aufwinde, angeht, vergleichbar stark waren“, erklärt der meteorologische Projektleiter Dr. Hermann Gysi von Radar-Info in Karlsruhe. „Die geimpfte nördliche Zelle hat sich über dem Schutzgebiet kaum noch verändert, eher abgeschwächt und wenig Hagel gebildet – erst im Landkreis Schwäbisch Hall hat sie wieder zugelegt. Dagegen hat sich die nicht geimpfte südliche Zelle rasch kräftig weiterentwickelt – mit den bekannten Folgen. Es deutet daher vieles darauf hin, dass die Hagelabwehr sehr wirkungsvoll war.“ Im Rems-Murr-Kreis konnten die beiden Flugzeuge somit größere Schäden verhindern. Lediglich im Bereich Ludwigsburg, Steinheim bis Aspach kam es zu Hagel mit Korngrößen von bis zu 1,5 Zentimetern Durchmesser. Von dort wurden jedoch keine großflächigen Schäden gemeldet. Landrat Johannes Fuchs resümiert: „Einmal mehr haben die Hagelflieger die Obst- und Weinbauern, Haus- und Autobesitzer vor Schlimmerem bewahrt.“ pm