Lokales

„Haus am Markt“ wird Geschichte

Mit Archivalien lassen sich Fragen zur Hausgeschichte klären, die sich mit dem Baubefund decken

Die Kirchheimer Marktstraße um 1900 mit Blick auf die Häuser zwischen Max-Eyth- und Flachsstraße. Das Fachwerk des Rathauses wur
Die Kirchheimer Marktstraße um 1900 mit Blick auf die Häuser zwischen Max-Eyth- und Flachsstraße. Das Fachwerk des Rathauses wurde erst 1905 freigelegt.Foto: Stadtarchiv Kirchheim

Kirchheim. Demnächst wird wieder ein nach dem Stadtbrand von 1690 erbautes Fachwerkhaus in der Kirchheimer Altstadt der Geschichte angehören. Das Haus Marktstraße 19,

dessen Abbruch bevorsteht, ist – wie dendrochronologisch nachgewiesen werden konnte – 1691 erbaut worden und gehört damit zu den wenigen Häusern, die schon im ersten Jahr nach dem verheerenden Stadtbrand errichtet worden sind, allerdings nicht genau auf dem Hausareal des Vorgängerbaus. Dies zeigte schon die Haus- und Kelleruntersuchung durch den Bauforscher Tilmann Marstaller und den Kirchheimer Museumsleiter Rainer Laskowski samt seiner Archäologie-AG. Unter dem Gebäude stecken ein großer Gewölbekeller und ein südlich davon gelegener halber Keller, dessen südliche Hälfte 1958 abgebrochen und dessen nördlicher Teil dann genau in der Mitte vom Scheitel ab neu abgemauert worden ist. Bemerkenswert ist auch die frühere Zweiteilung des Hauses.

Wie lassen sich diese Befunde über archivalische Nachforschungen erklären? Auf der östlichen Seite der Marktstraße, zwischen Max-Eyth-Straße und Flachsstraße, standen im 16. und 17. Jahrhundert sechs Häuser, zu denen jeweils ein Gewölbekeller gehörte. Ein Steuerbuch von 1587/89 nennt als Besitzer des Eckhauses zur heutigen Max-Eyth-Straße sowie des südlich daran anschließenden Hauses die Kinder eines verstorbenen Balthasar Eyßlinger. Darauf folgte als drittes Haus das des Jacob Runcker; das vierte Haus gehörte je zur Hälfte Hans Veyhel und dem Magister Jacob Dinkelacker, der lateinischer Schulmeister zu Herrenberg war. Das fünfte Haus war im Besitz des Spitalschreibers Bernhard Kienlin. Das sechste Haus, Eckhaus zur heutigen Flachsstraße, gehörte wiederum zwei Besitzern, und zwar dem Schreiner Hans Eppinger und dem Schneider Bartlin Ganser.

Eine wichtige Hilfe bei der Lokalisierung von Häusern bilden die Jahreszinsen, die auf den meisten Häusern lasteten und die an unterschiedliche Institutionen zu entrichten waren, etwa an die Kellerei als staatliche Finanzverwaltung, an die Klos­terverwaltung, die Geistliche Verwaltung, das Spital oder an den städtische Armenkasten. So waren von den Besitzern des Eckhauses zur Max-Eyth-Straße Zinsen in Höhe von 10 Schilling Heller an die Geistliche Verwaltung und 3 Schilling Heller an das Spital zu bezahlen; auf dem Eckhaus zur Flachsstraße lasteten Zinsen an das Spital und an die Geistliche Verwaltung.

Diese Zinsen waren zumeist durch Verkäufe oder Schenkungen bereits im Spätmittelalter entstanden. Da sie bis zur Ablösung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entrichtet werden mussten, wurden sie jeweils bei Hausverkäufen in den städtischen Kaufbüchern oder in Besitzverzeichnissen („Lagerbücher“) von Kellerei, Kloster, Spital, Geistlicher Verwaltung und Armenkasten aufgeführt und erleichtern damit die Rekonstruktion von Hausgeschichten über Jahrhunderte hinweg.

Bis auf das Haus des Jacob Runcker (Zins an die Kellerei in Höhe von drei Hellern) lasteten auf den übrigen Häusern dieses Straßenzuges jedoch keine Zinsen.

Am 3. August 1690 fielen dem Stadtbrand insgesamt 257 Häuser zum Opfer. Manche Hausbesitzer nutzten den Wiederaufbau zur Vergrößerung ihres Bauareals. So erwarb der Krämer Hans Caspar Ankelin (gestorben 1733), der Mitglied des Stadtgerichts war, Nachbargrundstücke in der Max-Eyth-Straße und erbaute auf diesem Areal das heutige Haus Marktstraße 17. Er ist übrigens der Stifter des Tauftischs von 1691 in der Martinskirche. Eine ähnliche Vergrößerung ist bei dem Haus Marktstraße 23 (1958 für den Neubau Battenschlag abgebrochen) festzustellen, das auf dem Areal von zwei abgebrannten Häusern erbaut wurde und deshalb zwei Gewölbekeller aufwies.

Eine etwas andere Entwicklung dagegen nahm das Areal zwischen diesen Eckhäusern. Bereits 1691 entstand, wie das Dendrodatum belegt, das Haus Marktstraße 19. Für den Bau hatten sich zwei Bauherren zusammengeschlossen. Dem einen, dem Ratsverwandten Hans Wilhelm Heimb, hatte das Haus gehört, auf dem der Zins in Höhe von drei Hellern lastete, dem anderen das nördlich anschließende, zinsfreie Haus. Für ihren Neubau nutzten sie die Hofstatt des zinsfreien Hauses sowie die Hälfte der mit dem Zins an die Kellerei belasteten Hofstatt. So ist es zu erklären, dass das Haus Marktstraße 19 fortan mit der Hälfte des Zinses in Höhe von drei Hellern an die Kellerei belastet war, einen großen Gewölbekeller und die Hälfte eines weiteren Kellers besaß und eine Aufteilung in zwei Wohnungen aufwies.

Den Rest der Hofstatt „auf dem Markt“ verkaufte Hans Wilhelm Heimb am 6. Februar 1695 für 200  Gulden an seinen „Tochtermann“, den Barbier Hans Conrad Hiller, zum Bau eines neuen Hauses (Marktstraße 21). Zu diesem Haus, das ebenso 1958 dem Neubau Battenschlag gewichen ist, gehörte somit die zweite Kellerhälfte sowie ein weiterer Gewölbekeller. Fortan entrichtete der Hausbesitzer die andere Hälfte des Zinses von drei Hellern an die Kellerei. Beim Verkauf der Haushofstatt erhielt der Käufer die Erlaubnis, „hart“, also ohne Zwischenraum, an das bereits 1691 erstellte Haus zu bauen; zudem wurde ihm auferlegt, auf eigene Kosten eine Rinne zwischen die Dachwerke zu legen.

Verfolgt man die weitere Hausgeschichte der Marktstraße 19, so begegnet man zwei berühmten Namen. In der nördlichen Haushälfte wohnte 1713 der Buchbinder Johannes Dorfner. 1664 in Regensburg geboren, ließ er sich 1693 in Kirchheim einbürgern, wofür er der Stadt Geburts- und Lehrbrief vorlegen musste. Er ist der Stammvater der Kirchheimer Metzgerfamilie Dorfner (später Marktstraße 47) und Ururururgroßvater des berühmten Buchbinders Otto Dorfner (1885–1955), der 1944 das Goldene Buch für seine Heimatstadt Kirchheim stiftete.

Auch 1823 war das Haus noch zweigeteilt. Ebenso in der nördlichen Hälfte wohnte der Buchbinder und Stadtrat Gottfried Ludwig Ficker. Dessen Vorfahre Georg Andreas Ficker hatte als Buchbindergeselle 1728 das Kirchheimer Bürgerrecht erworben. Er ist der Stammvater der Fabrikantenfamilie Ficker. Der Buchbinder Albert Ficker (gestorben 1890) eröffnete 1858 in gemieteten Räumen in der Marktstraße 6 einen kleinen Handwerksbetrieb „in Ledergalanterie- und Cartonage-Arbeiten, im Zimmertapeziren und Einrahmen von Portraits“. 1863 erbaute er ein Wohnhaus mit Werkstatt am Unteren Tor (Marktstraße 1). Seine Söhne Otto (gestorben 1928) und Eugen (gestorben 1935) erbauten dann 1894 das Fabrikgebäude mit Gleisanschluss in der Ötlinger Vorstadt für eine moderne Papierwarenfabrik.

Markante gusseiserne Säulen, laut Inschrift von der Kirchheimer Gießerei Borst & Grüninger hergestellt, belegen eine Modernisierung des Ladens im Erdgeschoss der Marktstraße  19 im Jahre 1895 durch den damaligen Besitzer Wilhelm Späth, Drehermeister und Schirmfabrikant. Zur Verbreiterung des Ladenraumes dürfte der Aufgang vom Gewölbekeller zur Straße zugemauert worden sein, weshalb ein neuer Kellerzugang im hinteren (östlichen) Teil des Kel-lers notwendig wurde. Hier baute man jetzt eine steinerne Treppe auf einem Gewölbebogen ein. Später war in dem Laden über viele Jahrzehnte das Schirmgeschäft von Karl und Dora Fritz untergebracht, zuletzt das Nähzentrum Ursula Zimmerer.

Ein um 1900 aufgenommenes Foto zeigt die dichte Reihe der giebelständigen Häuser zwischen Max-Eyth-Straße und Flachsstraße. Ursprünglich hatten alle vier Häuser die Traufhöhe der beiden Eckhäuser Marktstraße 17 und 23. 1828 wurde das erste Dachgeschoss des Hauses Marktstraße 19 zu einem Wohngeschoss umgebaut, indem es weiter nach außen verlegte Seitenwände bekam und indem das Dach flacher gelegt wurde. Was die Traufhöhe betraf, wirkte das Haus jetzt wie dreigeschossig und galt fortan in den Baubeschreibungen auch als dreistockig. Raum- und Firsthöhe hatten sich aber nicht verändert. Ein zusätzliches drittes Stockwerk bekam dagegen Jahrzehnte später das benachbarte Haus Marktstraße 21. Dieses Straßen-bild sollte sich bis zum Jahre 1958 erhalten, als zwei Häuser (Marktstraße 21 und 23) dem Neubau Battenschlag weichen mussten. Vom ehemaligen Gebäude Marktstraße 21 zeugt heute nur noch der Fassaden­umriss in Glasbausteinen. Auch der ehemals gemeinsame Zugang mit Flur ist im Haus Marktstraße 19 derzeit noch zu sehen.