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„Hören Sie auf die Grundschullehrer“

Mehr überforderte Fünft- und Sechstklässler – Eltern sollten Empfehlung beherzigen

Was sich bereits seit Jahren abzeichnete, hat mit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung rasant an Fahrt aufgenommen: Nur noch ein geringer Prozentsatz wechselt nach der Grund- auf eine Haupt- oder Werkrealschule. Immer mehr überforderte Kinder sitzen damit vor allem in den Realschulen. Das bestätigen auch Rektoren in Kirchheim und Umgebung.

Häufiger als vor dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung haben Schüler der Orientierungsstufe an Realschulen und Gymn
Häufiger als vor dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung haben Schüler der Orientierungsstufe an Realschulen und Gymnasien Probleme, dem Unterrichtsstoff zu folgen.Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. „Man kann‘s ja mal probieren.“ Diesen Satz hört der Rektor der Weilheimer Realschule, Winfried Rindle, seit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung vor zwei Jahren häufig von Eltern. „Davon halte ich überhaupt nichts.“ Die Kinder müssten es ausbaden, wenn sie auf der falschen Schule seien. „Wir haben deutlich mehr überforderte Schüler als vorher“, sagt Rindle. Jeweils zehn Prozent der Fünft- beziehungsweise Sechstklässler der Weilheimer Realschule hatten in ihrer Halbjahresinformation den Vermerk stehen, dass ihre Versetzung gefährdet ist. Schon nach ein oder zwei Jahren eine Klassengemeinschaft verlassen zu müssen, wirke sich negativ auf das Kind aus, hebt Rindle hervor. „Ich sage den Eltern deshalb bei allen Infoveranstaltungen: ‚Hören Sie auf den Rat der Grundschullehrer. Die sind mit ihrer Empfehlung sehr treffsicher.‘“

Die Werkrealschulen machten eine sehr gute Arbeit, gibt der Realschulrektor zu bedenken. Sie könnten in meist kleineren Klassen Kinder individueller fördern. Zudem sei das Schulsystem so durchlässig, dass der Weg zu mittleren und höheren Bildungsabschlüssen auch nach der Werkrealschule offen sei. Eine Zunahme beobachtet Rindle jedoch auch bei der Zahl der Rückläufer vom Gymnasium. Alleine zum Beginn des Schuljahres kamen zehn ehemalige Gymnasiasten an die Wühle, davon zwei bereits nach der fünften Klasse.

Dass sich nicht wenige Eltern über die zwar nicht mehr verbindliche, aber dennoch schwarz auf weiß vorliegende Empfehlung der Grundschule hinwegsetzen, zeigt ein Blick in die Statistik: Obwohl im Landkreis Esslingen im vergangenen Jahr 23 Prozent der Viertklässler eine Empfehlung für eine Haupt-, Werkreal- oder Gemeinschaftsschule hatten, wurden lediglich rund zehn Prozent aller Viertklässler an einer Haupt- oder Werkrealschule angemeldet, knapp drei Prozent an einer Gemeinschaftsschule. Der Rest der Eltern ignorierte den Rat der Grundschule. Das zeigen die Zahlen des Statistischen Landesamtes.

Alles in allem gehen Eltern jedoch sehr verantwortlich mit der Schulwahl für ihr Kind um, hat Dunja Salzgeber, Rektorin der Lenninger Karl-Erhard-Scheufelen-Realschule, festgestellt. „Aber die Extreme, mit denen wir es jetzt zu tun haben, gab es früher nicht.“ Im ersten Jahr nach dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung seien die Rückläufe nicht so deutlich gewesen, so die Erfahrung von Dunja Salzgeber. Die Kinder bekämen in der fünften Klasse Zeit, sich in der neuen Schule einzugewöhnen. „Veränderungen ergeben sich eher am Ende von Klassenstufe sechs oder zum Halbjahr.“ Jedes weitere Verbleiben in der falschen Schule helfe den Kindern auch nicht weiter. Zum Halbjahr habe sie vier Kinder aus dem Gymnasium auf­genommen. „Häufig übersteigen die Anfragen unsere Möglichkeiten.“

Wie ihr Weilheimer Kollege verweist Dunja Salzgeber auf die Durchlässigkeit des Systems: „Wir haben zum Halbjahr sogar ein Kind aus der sechsten Klasse der Werkrealschule bekommen.“ Zwei ehemalige Sechstklässler der Realschule besuchen seit Beginn des zweiten Halbjahrs die Werkrealschule. „Ich habe aber deutlich mehr Schülern einen Wechsel nahegelegt“, so Dunja Salzgeber. Ohne aus datenschutzrechtlichen Gründen zu wissen, welche Empfehlung die Kinder in der Tasche hatten, geht sie davon aus, dass es nicht der Besuch der Realschule war. „Ich würde mir wünschen, dass Eltern Vertrauen in die Lehrer haben, denn die Grundschulkollegen treffen Bildungsempfehlungen sehr gewissenhaft.“ Bei der bevorstehenden Anmeldung im März für das nächste Schuljahr baut sie deshalb auf die Vernunft der Eltern.

Dass es deutlich mehr Schüler als früher gibt, die in den Klassen fünf und sechs massive Probleme haben, bestätigt auch der Rektor der Kirchheimer Freihof-Realschule, Clemens Großmann. Wenn ein Kind beispielsweise nicht in der Lage sei, Aufgaben zu lösen, weil es nicht sinnerfassend lesen könne, sei es in der Realschule überfordert. „Früher hatten wir vielleicht einen Schüler in den Klassen fünf und sechs, jetzt waren es zum Halbjahr sieben Fünftklässler, deren Versetzung gefährdet ist.“ Sie seien alle in der Schule geblieben. Von vier versetzungsgefährdeten Sechstklässlern sei nur einer auf die Werkrealschule gewechselt. Vom Gymnasium wiederum habe die Freihof-Realschule schon vor Beginn des neuen Halbjahres zwei Sechstklässler aufgenommen.

„Eltern wollen für ihre Kinder das Beste. Das ist aber nicht für jedes Kind das Gymnasium“, betont die Leiterin des Kirchheimer Schlossgymnasiums, Lucia Heffner. Wie ihre Kollegen gibt sie den Eltern den Rat, bei der Schulwahl auf die Grundschullehrer zu hören. „Sie haben in den meisten Fällen ein gutes Händchen.“ Schon seit einigen Jahren beobachtet Lucia Heffner, dass es vermehrt Kinder gibt, die Probleme mit den Hausaufgaben haben. „Das war aber schon vor dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung so.“ Der Anstieg der Übergangszahlen habe auch an den Gymnasien heterogenere Klassen mit sich gebracht. Doch geht sie davon aus, dass das Problem in Großstädten eklatanter ist. Schon früher habe es Eltern gegeben, deren Kinder in der Grundschule Nachhilfe bekamen, um den Übergang aufs Gymnasium zu schaffen.

Wie alle befragten Rektoren betonen, unternehmen die Schulen alles Erdenkliche, um Kindern mit Startschwierigkeiten in der Orientierungsstufe, sprich in der fünften und sechsten Klasse, mit Förderunterricht unter die Arme zu greifen. „Wenn aber Eltern für ihr Kind in Mathe, Deutsch und Englisch Förderbedarf anmelden, läuft etwas schief“, so Rindle.

Zahl der Sitzenbleiber steigt im Land deutlich an

Eine landesweite Sondererhebung zur Ermittlung der Nichtversetzten von der fünften Klasse im Schuljahr 2012/2013 in die sechste Klasse im Schuljahr 2013/2014 hat zutage gefördert, dass die Quote insbesondere bei den Realschulen signifikant angestiegen ist. Sie liegt bei den Realschulen bei 3,89 Prozent und bei den Gymnasien bei 1,32 Prozent. Wie das Kultusministerium Baden-Württemberg auf Anfrage mitteilt, lagen diese Quoten in früheren Jahren deutlich darunter. Zum Ende des Schuljahres 2011/2012 bewegte sie sich an den Realschulen bei 0,7, im Jahr davor bei 0,8 Prozent. An den Gymnasien betrug sie jeweils 0,4 Prozent. Ein Zusammenhang mit dem Wegfall der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012 ist damit eindeutig erkennbar.ank