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Magische Kreise geben ihr Geheimnis preis

Jahrelang forschte Niels Böhling nach dem „Bärlauchfresser“ – Spur führt nach Java

Dr. Niels Böhling könnte das Rätsel um die ¿Magic Circles¿ im Kirchheimer Hohenreisach lösen. Foto: Jean-Luc Jacques
Dr. Niels Böhling könnte das Rätsel um die ¿Magic Circles¿ im Kirchheimer Hohenreisach lösen. Foto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. „Hänschen im Blaubeerenwald“ – dieser Kinderbuchklassiker der schwedischen Autorin Elsa Beskow könnte im Kirchheimer Hohenreisach getrost in „Hänschen im Bärlauchwald“ umgetitelt werden.

Das stark duftende Knollengewächs bildet zurzeit einen Wald in Miniformat im Wald. Der aufmerksame Wanderer oder Kräutersammler kann aber auch geheimnisvolle Flecken entdecken: Auf kreisrunden Flächen finden sich nurmehr einzelne kümmerliche Bärlauch-Pflänzchen. Welch geheimnisvolle Wesen waren hier am Werk – hat etwa der Zwergenkönig aus dem Blaubeerenwald den Weg in den Kirchheimer Forst gefunden und treibt hier seinen Schabernack?

Dr. Niels Böhling, Geograf und Biologe aus Kirchheim, ging diesem Phänomen rein wissenschaftlich auf den Grund. Doch auch er konnte sich der Magie dieser „Magic Circels“, wie er sie taufte, nicht entziehen. Zunächst bemühte er seine Fantasie, denn des Rätsels Lösung liegt versteckt im Mikrokosmos – zu Erde, zu Luft und auf Obstbäumen. „Meine erste Idee war, ob es sich dabei um eine Natter-Raketenabschussrampe handlen könnte“, sagt Niels Böhling. Diese Überlegung verwarf er jedoch schnell. Rehwild schied ebenfalls aus, da es um die Kreise keine Tretspuren gab. Nicht infrage kam auch eine großflächige Ernte mit der Sense, weil sich nie Stängelreste fanden.

Die schöne kreisrunde Form führte ihn dann zu einer weiteren Überlegung: „Ich fasste die Pilze näher ins Auge, da es ja Hexenringe gibt.“ Bei diesen Hexen- oder Feenringen wachsen die Pilze als nahezu gleichmäßige Ringe aus dem Boden. Doch die Suche nach den bekannten Pilzarten, die in dieser besonderen Form an die Oberfläche kommen, blieb erfolglos. Sollte er etwa wieder die falsche Spur verfolgt haben? Mittlerweile war Niels Böhling aber klar, dass „irgendwas“ im Untergrund die Ursache für den kreisrunden Bärlauchschwund sein muss. „Dann gräbst du halt“, hat er eines schönen Sommers gedacht und mit der Arbeit begonnen. Er musste aber bis Oktober durchhalten, ehe er Beweise für seine Theorie fand. Zwar stellte der Wissenschaftler schon im September gewisse Veränderungen fest, doch erst im Oktober zeigte sich das volle Ausmaß der Bärlauch-Zerstörung. Nahezu alle Zwiebelknollen waren aufgefressen und zu einer Art Wasser-Brei aufgelöst worden, sodass nur noch Cellulosereste übrig blieben. Und dann entdeckte Niels Böhling den Übeltäter: Wie vermutet, war es ein Pilz, allerdings noch eine unbekannte Art. „Er ist sehr unscheinbar und führt ein äußerst verstecktes Leben. Er sieht wie Schimmel aus und variiert in den Farben violett, weiß oder grau“, beschreibt der Forscher das Corpus Delicti.

Jetzt war er seinem Ziel zwar einen großen Schritt nähergekommen, doch die wahre Identität dieser Spezies lag weiterhin im Dunkeln. Niels Böhling wälzte Fachliteratur, recherchierte im Internet nach ähnlichen Vorkommnissen, doch die Suche blieb erfolglos. „Das ist ein neuartiges Phänomen, das wohl weltweit einmalig ist – und dabei tritt es im Reisach gleich massiv auf“, so der Kirchheimer. Der Pilz hinterlässt verbrannte Erde. Er wächst stur geradeaus, nicht um eine Ecke, und im Idealfall kreisrund. Gestoppt wird er nur durch Wege, Bäume oder große Äste. Steht der Bärlauch nicht mehr dicht an dicht, endet ebenfalls die Pilzspur.

Das „Reisach“ – wie Niels Böhling es nennt – kennt der Biologe und Botaniker wie seine Westentasche. Seit 1995 kartiert er dort genau abgesteckte Flächen. Als er diese Arbeit von Gertrud Buck-Feucht übernahm, sind ihm keine Kreise aufgefallen – bis auf einen im Nachhinein. „Damals habe ich mir nicht viel Gedanken darüber gemacht, der Kreis stach einem nicht wirklich ins Auge“, sagt Niels Böhling. Im Jahr 2007 wiederholte er die Kartierung. In diesem Zeitraum hat sich der Bärlauch um das Zweieinhalbfache vermehrt und den Blaustern, lange Zeit eine botanische Besonderheit in Kirchheim, immer mehr verdrängt. „Dabei entdeckte ich dann 15 bis 20 schöne Kreise oder sichelförmige Flächen“, erinnert sich der Biologe.

In den folgenden Jahren nahm er diese Flächen genauer unter die Lupe. Pro Jahr wachsen sie um rund 40 Zentimeter nach außen, sodass der Forscher in etwa das Alter der Kreise schätzen kann. Der Schönste, „Aldinger-Kreis“ genannt, ist etwa 13 bis 14 Jahre alt und hat einen Durchmesser von über 21 Meter. „In der Mitte besteht schon die Regenerationsinsel – das hat fast schon Atoll-Charakter. Dort siedelt sich der Bärlauch dank Samenflug wieder an“, beschreibt Niels Böhling diese weitere Besonderheit. Somit wird im Laufe der Zeit aus einem Kreis ein Ring.

Die Frage, warum der Pilz ausgerechnet im Hohenreisach sein Unwesen treibt, ließ Niels Böhling nicht los. Für den Bärlauch ist die Gegend ein idealer Standort, weshalb er dort bestens gedeiht. Der Pilz befällt deshalb keine schwachen Pflanzen. „Der Waldrand ist das Spannende“, verrät der Biologe. Gemeinsam mit Dr. Matthias Lutz, damals noch an der Universität Tübingen tätig, konnte Niels Böhling schließlich den Pilz identifizieren. Ende März, Anfang April kommt er an die Oberfläche, es ist seine sporenbildende Phase. „Wir haben die Myzel gefunden und damit den Beleg“, so der Kirchheimer. Auf der Unterseite von Totholz haben die Forscher ein violettes Pilzgeflecht entdeckt, das mikroskopisch kleine Sporenträger produziert. Doch die beiden Wissenschaftler mussten einen langen Atem beweisen. Von 2008 bis 2011 suchten sie nach eben jenen Sporen, ehe sie sie fanden. „Dieser Pilz ist ein Parasit, der zudem einen weiteren Pilz parasitiert. Das machte es für uns so schwierig, die Art zu bestimmen“, so der Biologe.

Somit ist das Rätsel um die „Magic Circles“ gelöst: Eine Pilzspore fliegt durch die Lüfte und siedelt sich im Bärlauch an. Der daraus wachsende Pilz frisst sich dann durch die Wurzeln, kommt im Frühjahr wieder an die Oberfläche und entlässt seine Sporen in die Fluren. Vom Wind werden sie auf die nahen Birnbäume gewirbelt, wo sie den Birnengitterrost als Wirt finden und sich dort niederlassen. „Bemerkenswert ist sein dreifaches Leben. Matthias Lutz hat erkannt, dass es sich in all diesen Phasen um ein und dasselbe Lebewesen handelt. Molekularbiologische DNA-Untersuchen haben das ans Licht gebracht“, erzählt der Biologe. Im Herbst und Winter werden die auf dem Rostpilz gebildeten, ungeschlechtlichen Sporen wieder in Richtung Bärlauch entlassen und der Zyklus beginnt von Neuem, wenn nur eine einzige der zu zigtausenden produzierten Sporen keimt.

Dank der DNA konnten die beiden Forscher zweifelsfrei nachweisen, dass der im Kirchheimer Bergwald aufgetauchte Pilz aus Java stammt, jener großen Insel Indonesiens, auf der auch die Hauptstadt Jakarta liegt. Dort wurde er zumindest im Jahr 1917 erstmals beschrieben und heißt seitdem „Helicobasidium longisporum“ – „Langsporiger Wurzeltöter“. Für Niels Böhling ist das Auftauchen dieser in den Tropen und Subtropen beheimateten und wärmebedürftigen Art ein weiterer Beweis für die Erwärmung des Klimas. Erstmals wurde sie 1974 in Europa nachgewiesen und mittlerweile auch zur biologischen Bekämpfung des Birnengitterrosts eingesetzt.