Lokales

Mit kreativem Kampf durchs Leben

Die 49-jährige Petra Bader aus Wendlingen kam als Contergan-Opfer ohne Arme auf die Welt

Wendlingen. Petra Bader ist ein Mal mit Armprothesen über die König­straße in Stuttgart geschlendert. Ein einziges Mal. Doch die 49-Jährige

Heike Allmendinger

wurde nicht angeguckt – zumindest nicht so wie sonst. „Ich habe gemerkt: Das bin einfach nicht ich“, erzählt Petra Bader, die ihre Armprothesen seither nie wieder benutzt hat. Durch das Leben geht die Wendlingerin viel lieber so, wie sie ist – ohne Arme. Und die Menschen schauen wieder. Das ist sie gewohnt, damit hat sie zu leben gelernt.

Die Blicke der Leute kann die Wendlingerin, die als Contergan-Opfer ohne Arme auf die Welt gekommen ist, problemlos deuten. Da gibt es die bemitleidende Sorte, aber auch die bewundernde. Wenn jemand regelrecht starrt, dann sorgt die Mutter zweier Töchter schon mal kurzerhand für Ernüchterung. In solchen Situationen konfrontiert sie ihr Gegenüber mit frechen Sprüchen wie zum Beispiel: „Was ist los? Wollen Sie ein Passbild?“ Das rüttelt die Leute wach, hat die 49-Jährige beobachtet. Diskriminierungen und abfälligen Bemerkungen, die Petra Bader immer wieder zu spüren bekommt, begegnet sie nie stillschweigend. „Man muss sich wehren. Sonst schafft man den Blick in den Spiegel nicht mehr.“

Petra Bader ist eine starke Frau. Doch sie hat auch lernen müssen sich durchzuboxen. „Ich habe mir immer Ziele gesetzt. Und ich wusste, an meine Tür klopft niemand. Ich muss selber raus. Das ist wichtig“, unterstreicht die 49-Jährige. Ihre Mutter hat das damals rezeptfreie Medikament Contergan, das auch zur Linderung von Schwangerschaftsbeschwerden empfohlen wurde, in flüssiger Form zu sich genommen. Nur einen Teelöffel davon hat sie geschluckt. Einen Teelöffel zu viel. „Sie hat es nie überwunden“, weiß Petra Bader und fügt hinzu: „Es leiden drei Generationen darunter: meine Mutter, ich und auch meine Töchter.“

An ihre Kindheit und Jugend erinnert sich Petra Bader gerne. Das sei eine schöne Zeit gewesen, sagt sie. Zwischen ihrem siebten und 21. Lebensjahr war die Wendlingerin in einem Internat für Kinder und Jugendliche mit Behinderung in Heidelberg untergebracht. Dort legte sie die mittlere Reife ab und absolvierte eine Ausbildung zur Industriekauffrau. „Das Internat war ein großes Zentrum mit Kino und Disko – einfach allem, was man sich vorstellen kann.“ Die anderen Kinder und Jugendlichen hatten ähnliche Behinderungen wie sie. Es gab keine Diskriminierungen. „Aber es war irgendwie auch wie in einem Ghetto“, sagt Petra Bader rückblickend. Denn man brauchte nicht rauszugehen, alles war vor Ort. Kontakte nach außen zu knüpfen, war undenkbar.

„Ich habe dort eine normale Pubertät durchlaufen“, erinnert sich die Wendlingerin. Umso schwerer fiel es ihr, als sie das Internat schließlich verließ und in der „richtigen Welt“ ein neues Leben begann. Zwei Jahre lang half sie zunächst in der Firma ihres Vaters mit und lebte in einer eigenen Wohnung im elterlichen Haus. Anschließend zog sie nach Stuttgart und arbeitete sieben Jahre beim Versorgungsamt und ein Jahr beim Landratsamt in Esslingen. Doch dann erlitt sie sieben Bandscheibenvorfälle. An Arbeit war nicht mehr zu denken. Deshalb bezieht Petra Bader mittlerweile Erwerbsunfähigkeitsrente. „Ich habe immer gerne gearbeitet. Man rutscht auch ein bisschen ins soziale Abseits, wenn man keine Arbeitskollegen mehr trifft.“ Doch auch mit dieser Situation hat sich die selbstbewusste Frau arrangiert. „Es blieb mir ja auch nichts anderes übrig.“

Ihren Alltag bewältigt die Wendlingerin, die geschieden ist und mit ihren 16 und 18 Jahre alten Töchtern ein Reihenhaus bewohnt, ohne größere Probleme. „Man muss kreativ sein“, erklärt die 49-Jährige schulterzuckend und erzählt, wie sie mit dem Fuß den Herd putzt oder sich die Haare wäscht. „Bis zur dritten Klasse habe ich alles mit den Füßen gemacht, auch geschrieben. Doch dann kam die Eitelkeit“, erzählt Petra Bader schmunzelnd. Heute schreibt und telefoniert sie beispielsweise mit den Händen. Mit den Zähnen, die sie als „Greifwerkzeug“ bezeichnet, öffnet sie hingegen Verpackungen. „Außerdem habe ich meine Töchter, als sie noch Babys waren, mit den Zähnen getragen, indem ich mich an ihrer Kleidung festbiss.“

Obwohl Petra Bader momentan gut zurechtkommt, hat sie auch Angst vor der Zukunft. „Die Schmerzen nehmen zu, weil meine Bewegungsabläufe atypisch sind. Ich stehe viel auf einem Bein, das belastet die Knie. Außerdem ist die Knochensubs­tanz von Contergan-Geschädigten mit der von 70-Jährigen vergleichbar.“ Eine weitere Sorge ist der finanzielle Aspekt. Denn das Leben mit Behinderung sei sehr teuer, und die Krankenkasse übernehme nur wenige Hilfsmittel, die den Alltag erleichtern. Die Umrüstung ihres Autos hat Petra Bader beispielsweise selbst übernehmen müssen – ebenso das elektrische Garagentor und die elektrischen Rollläden.

Petra Bader setzt sich deshalb als Mitglied des Contergan-Netzwerks Deutschland für eine angemessene Entschädigung der 2 800 Contergan-Opfer in der Bundesrepublik ein. Hier kämpft sie vor allem „für diejenigen, die nicht so viel Glück hatten wie ich“. Damit meint sie Contergan-Opfer, die keine Arme und Beine haben und unter der Armutsgrenze leben müssen. Sie erhielten – genauso wie sie selbst – die monatliche Höchstrente in Höhe von 1 127 Euro. „Die Pflege kostet bei ihnen aber 12 000 Euro im Monat.“

Zwar hat Firma Grünenthal, die das Medikament Contergan im Jahr 1957 auf den Markt brachte, vor zwei Jahren weitere 50 Millionen Euro für die Opfer gestiftet. Doch der deutsche Staat verteile dieses Geld auf 25 Jahre, ärgert sich Petra Bader. „Das heißt zum Beispiel für mich, dass ich 25 Jahre lang jährlich nur 2 300 Euro erhalte.“

Die Bundesrepublik habe die Firma Grünenthal damals, als der Contergan-Skandal ans Licht kam, aus ihrer Schuld entlassen. „Sie hat die Verantwortung übernommen und stellt sich ihr überhaupt nicht.“ Im Jahr 2009 hatte das Contergan-Netzwerk Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingereicht – sie blieb jedoch erfolglos. „Das Gericht nahm die Beschwerde nicht einmal an, mit der Begründung, wir seien keine Sonderopfer. Aber was sind wir denn dann, frage ich mich.“

Aktuell läuft ein Beschwerdeverfahren beim europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Darauf ruht nun die Hoffnung der Contergan-Geschädigten. Doch auch, wenn die­se Beschwerde ebenfalls nicht zum Erfolg führen sollte, geben die Mitglieder des Contergan-Netzwerkes keineswegs auf, betont Petra Bader. „Wir hören erst auf zu kämpfen, wenn das Licht ausgeht.“

Petra Bader in Wendlingen -  Kirchheimer Strasse 121 - Conterganopfer Behindert, Behinderung,Handicap
Petra Bader in Wendlingen - Kirchheimer Strasse 121 - Conterganopfer Behindert, Behinderung,Handicap