Lokales

Poesie verbindet Rosen und Liebe polyglott

Das Duo „Cant-Accord“ sorgt auf dem Kirchheimer Rollstuhlplatz für eine besondere Mußestunde mitten im Alltag

Rollschuhplatz: Kirchheim holt die Stühle raus: "Cant-Accord"
Rollschuhplatz: Kirchheim holt die Stühle raus: "Cant-Accord"

Kirchheim. „Kirchheim holt die Stühle raus“, hieß es am Freitag wieder. Wetter, Uhrzeit und Wochentag

Andreas Volz

sorgten zwar leider dafür, dass die Veranstaltung nicht ganz den Zuspruch erhielt, den sie verdient gehabt hätte. Aber immerhin war es kein Unwetter, das dem Duo „Cant-Accord“ aus Tübingen einen Strich durch die Rechnung machte: Vielmehr war das Wetter zu gut. Der Sonnenschein ließ die Zuschauer den Schatten des großen Kastanienbaums an der Nordostecke des Rollschuhplatzes suchen. Der große Platz selbst blieb dagegen weitgehend leer.

Sängerin Katalin Horvath versuchte immer wieder, das Publikum zum Tanzen zu bewegen. Selbst ohne das Tanzen hätte sie sich eine größere Nähe zu den Zuhörern gewünscht. Aber immerhin lag es wirklich an den äußeren Bedingungen, dass das Publikum räumlich distanziert blieb. Das Programm „Passion und Poesie“, das Katalin Horvath und ihr Akkordeonist Andrej Mouline boten, war durchaus dazu angetan, die Menschen von ihren mitgebrachten Sitzen zu reißen.

Schon beim allerersten Lied sprang der Funke über: Trotz der Entfernung zwischen Bühne und Zuschauerplätzen klatschten die Gäste begeistert mit, als Katalin Horvath auf Jiddisch über einen kleinen Jungen sang, der sich seinen Lebensunterhalt als Taschendieb verdient.

In allen möglichen Sprachen stellte die Sängerin im Lauf der guten Stunde nicht nur ihre stimmlichen, sondern auch ihre polyglotten Fähigkeiten unter Beweis. Sie entführte ihr Publikum durch halb Europa und begab sich gemeinsam mit Andrej Mouline am Bajan auch immer wieder nach Südamerika, um mit aufregenden Tango-Rhythmen vielleicht doch noch zum Tanzen zu animieren.

„Rauchend warte ich auf dich“, hieß es – natürlich im Original auf Spanisch – gleich im ersten Tango, der so verrucht klang wie es nur irgend geht. Speziell das Rauchen dürfte in großen Teilen Europas heutzutage allerdings verruchter sein als alles andere, was man mit dem Tango und dessen Entstehung gemeinhin in Verbindung bringt.

Auch Frankreich durfte natürlich nicht fehlen, und Katalin Horvath verwies darauf, dass Andrej Mouline eigens sein Instrument wechselte, um den richtigen französischen Akkordeonklang auf dem Rollschuhplatz zu versprühen. Auch mit Solonummern wusste der Akkordeonist von seinem unglaublichen Talent zu überzeugen und das Publikum mit teilweise irrsinnigen Läufen zum Mitwippen und Mitklatschen zu bewegen. Mitten in Kirchheim, umtost vom Verkehrslärm der Alleenstraße, gab es für diejenigen, die ihre Stühle rausgeholt hatten, eine Mußestunde, einen musischen Ausbruch aus dem Alltag.

Mitunter sang auch Katalin Horvath a cappella – zum Beispiel bei einem slowakischen Volkslied, in dem ein junges Mädchen an der Donau auf ihren Liebsten wartet. Erfreulicherweise gab die Sängerin immer einen kurzen Überblick über den Inhalt ihrer Lieder. Wenn auch der eine oder andere Zuhörer ein „sous le ciel de Paris“ – also „unter dem Himmel von Paris“ – versteht, so hören doch die Sprachkenntnisse des „normalen“ Kirchheimers irgendwann auf, ob beim Portugiesischen oder beim Russischen, spätestens aber beim Ungarischen und allerspätestens beim Finnischen.

Den „feinen finnischen Hang zur Melancholie“ pries Katalin Horvath auf dem Rollschuhplatz und machte in der Übersetzung auch gleich deutlich, worum es dabei geht, in der melancholischen Frage: „Meine Rose, meine Liebe, warum verwelktest du so schnell?“ Überhaupt gehört die Rose sowohl zur Passion als auch zur Poesie – sei es die „weiße Rose“, die Katalin Horvath auf Portugiesisch besang, oder die ungarische Rose, die gleichbedeutend mit der Liebe und einfach nur „schön“ ist.

Schön war jedenfalls auch das Konzert, voller Leidenschaft und Poesie, und außerdem ging es seinerseits viel zu schnell vorbei. Das Publikum erklatschte sich eifrig mehrere Zugaben. Die innere Distanz hatte sich ja gar nicht erst aufgebaut, auch wenn die äußere Distanz zur Bühne unüberwindbar blieb.