Lokales

Randale oder berechtigter Protest

Zwei Kirchheimer türkischer Herkunft bewerten die Unruhen in der Türkei völlig unterschiedlich

Während sich der Blick der Weltöffentlichkeit dem nächsten Unruheherd zuwendet, gehen die Proteste in Istanbul und anderen türkischen Städten weiter. Zwei Kirchheimer mit türkischen Wurzeln betrachten die Ausschreitungen, die ihre alte Heimat in den vergangenen Wochen erschüttert haben, mit Sorge. Wer die Schuld an der Eskalation der Gewalt trägt, wird allerdings äußerst unterschiedlich interpretiert.

Nicht nur in Istanbul sondern auch in anderen Städten der Türkei kam es in den vergangenen Wochen zu Protesten, wie hier in Anka
Nicht nur in Istanbul sondern auch in anderen Städten der Türkei kam es in den vergangenen Wochen zu Protesten, wie hier in Ankara.Foto: AFP Foto/Adem Altan

Kirchheim. Yakub Kambir und Hasan Savas haben ihre Wurzeln in der Türkei, leben jedoch seit vielen Jahren in Kirchheim beziehungsweise Holzmaden. Sie kennen und mögen sich, sind in ihrer eigenen Community, aber auch interkulturell aktiv: Kambir als Vorsitzender des größten Kirchheimer Moscheevereins, Savas als Vorstandsmitglied beim Türkischen Volkshaus. Beide engagieren sich im Integrationsausschuss der Stadt. Das sind die Gemeinsamkeiten. Wer mit ihnen jedoch über die Ausschreitungen in der Türkei spricht, bekommt zwei Interpretationen zu hören, die unterschied­licher nicht sein könnten.

Zunächst noch eine Gemeinsamkeit: Kambir und Savas lehnen Gewalt in jeglicher Form ab – ob von Polizisten oder Demonstranten. Wenn es jedoch darum geht, wer zuerst zugeschlagen, Steine geworfen oder Tränengas versprüht hat, ist Schluss mit Konsens. Für Yakub Kambir tragen gewaltbereite Demonstranten die Schuld an der Eskalation der Gewalt in Teilen Istanbuls. „Wenn Bürger bei angemeldeten Demonstrationen ihre Meinung friedlich kundtun, ist das ihr gutes Recht. Womit ich ein Problem habe, ist, wenn sich schwarze Blöcke unter die Demonstranten mischen und Autos anzünden oder Schaufenster einschlagen“, sagt er. Natürlich könne er es nicht gutheißen, wenn friedliche Demonstranten geschlagen werden. „Ich glaube aber nicht, dass das eine Strategie der Regierung ist. Das sind Polizisten, die nervlich überreagieren“, sagt Kambir. So etwas müsse natürlich bestraft werden. „Und ich bin sicher, dass das auch passieren wird.“

Für Hasan Savas hat die Gewalt dagegen System. „Für mich ist die Türkei ein Polizeistaat“, sagt er. „Das sehen Sie doch schon allein daran, dass Erdogan mit Blick auf die Demonstranten fordert, die Polizei noch mehr aufzurüsten.“ Dass Polizei oder Regierung zwischen friedlichen und gewaltbereiten Demonstranten unterscheiden, hält er für eine Lüge. „Sogar Frauen, die auf ihren Balkonen auf Töpfe schlagen, wurden mit Pfefferspray eingenebelt“, sagt er. Staatspräsident Gül habe Verständnis für die Demonstranten gezeigt, doch für Erdogan seien sie alle Chaoten und Marodeure. „Dabei sind auch Religiöse unter den Demonstranten, und solche, die die AKP gewählt haben“, sagt er.

Dass die Polizei mit solcher Brutalität vorgeht, wundert Hasan Savas nicht. „In den kurdischen Gebieten war das jahrelang so“, sagt er. So lang müsse man übrigens gar nicht zurückgehen. „Am 1. Mai dieses Jahres ist die Polizei brutal gegen Demonstranten und Gewerkschafter vorge­gangen, die auf dem Taksim-Platz in Istanbul den Tag der Arbeit feiern wollten“, erzählt Savas. Die AKP hatte die Demonstration an diesem Ort zuvor verboten.

Die Angst der Demonstranten, dass die Regierung Erdogan die Scharia einführen will, hält der Moscheevorsitzende Yakub Kambir für unberechtigt. „Er lässt sich natürlich durch islamische Werte leiten, aber ich habe nicht das Gefühl, dass er die Demokratie aushebeln möchte.“ Erdogan gehe auf Demonstranten zu, habe vorgeschlagen, die Sache des Gezi-Parks von der Justiz regeln zu lassen. Manche Vorwürfe findet Kambir unfair und konstruiert. „Weil Erdogan Alkohol regulieren will und man weiß, dass er sich von islamischen Werten leiten lässt, wirft man ihm vor, dass er die Scharia einführen will“, sagt Kambir. Wäre das der Fall, müsse Erdogan Alkohol konsequenterweise ganz verbieten lassen. Schließlich ist der Konsum gläubigen Muslimen untersagt.

Hasan Savas hingegen kann die Motive der Demonstranten sehr gut verstehen. „Wenn Erdogan jungen Menschen sagt, wie viele Kinder sie auf die Welt bringen sollen, gefällt ihnen das nicht“, sagt er. Alkoholbegrenzung müsse natürlich sein, „aber nicht mit religiösem Hintergrund“. Auch sonst spare Erdogan nicht mit Provokationen. „Er hat eine neue Brücke über den Bosporus nach Sultan Selim benannt. Für die Aleviten war das schlimm, weil dieser Sultan im 16. Jahrhundert viele Aleviten niedergemetzelt hat.“ Einen weiteren Grund für die Unzufriedenheit vieler jungen Menschen sieht Savas in der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich. „Die Wirtschaft boomt zwar, aber der Reichtum ist ungleich verteilt.“

Auch Yakub Kambir ist mit der Politik der Regierung Erdogan nicht vollständig zufrieden. „Ich finde zum Beispiel, dass man nicht alles, was staatlich ist, privatisieren muss“, sagt er. Allerdings habe die Regierung auch viel Gutes bewirkt. „Das Gesundheitssystem ist um Welten besser geworden. Das streiten auch Menschen, die gegen Erdogan sind, nicht ab.“

Medienschelte hagelt es sowohl von Yakub Kambir als auch von Hasan Savas. „Während die Proteste schon liefen, haben einige Sender lieber Dokumentationen über Pinguine gezeigt“, kritisiert Savas. Andere Sender würden in ihrer Freiheit beschnitten. „Hayat TV und Halk TV haben Strafen bekommen, weil sie die Bevölkerung durch Liveübertragungen von Demonstrationen angeblich aufgehetzt haben.“ Für Yakub Kambir hingegen sind es deutsche Medien, die die Realität verzerren und das Ausmaß der Proteste übertreiben. „Hätte ich keine Kontakte in die Türkei und würde mich nur über die Medien informieren, müsste ich denken, Istanbul und der Rest der Türkei wären in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand“, sagt er. Das sei jedoch nicht so, im größten Teil Istanbuls sei es friedlich geblieben.

Yakub Kambir betont übrigens, dass er frei sprechen könne, obwohl er der Vorsitzende einer Moschee der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (Ditib) ist. „Unser Imam wird zwar vom türkischen Staat bezahlt, aber die Gemeinde erhält keinerlei Gelder von der türkischen Regierung“, sagt er.