Lokales

„Reich – aber kinderarm“

Ministerpräsident Winfried Kretschmann auf Besuch in Kirchheim

„Wir wollen die Prosperität der Region, aber auch den schönen Lebensraum für unsere Kinder erhalten.“ Mit diesen Zielen umriss Winfried Kretschmann beim Neujahrsempfang der Kreis-Grünen die Ziele der Landesregierung. – Ziele, mit denen man sich auch abseits grüner Gesinnung identifizieren kann. An den Wegen dorthin scheiden sich jedoch die Geister. Der Ministerpräsident warb daher im Kommunalwahljahr engagiert für grüne Politik.* * *

Winfried Kretschmann- Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg -  trägt sich bei Matt-Heidecker ins Goldene buch der Stadt
Winfried Kretschmann- Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg - trägt sich bei Matt-Heidecker ins Goldene buch der Stadt ein, im Sitzungssaal Rathaus

Kirchheim. Der Kreis Esslingen ist für Winfried Kretschmann, der den Wahlkreis Nürtingen als Abgeordneter vertritt, ein Stück „politische Heimat“: Zwei Jahre hat er einst in der Ära von Landrat Dr. Braun kommunalpolitische Erfahrung im Kreistag gesammelt. Woran‘s gelegen habe, dass die Grünen seinerzeit bei jeder Rede unterbrochen wurden, wisse er nicht mehr, meinte er verschmitzt. Der Kreis Esslingen ist für ihn aber auch Abbild des Landes im Kleinen. „Im Mittleren Neckarraum schlägt das wirtschaftliche Herz Baden-Württembergs“, rühmte der Redner die Wirtschaftsstärke, lobte aber auch die idyllische Seite: „Wenn man vom Reußenstein herunterschaut, wähnt man sich im Paradies.“

Um beides zu erhalten, seien nachhaltige Prozesse vonnöten. Unter dem Stichwort „Energiewende“ erinnerte Kretschmann daran, dass sich die Grünen vor über 30 Jahren den Kampf gegen Atomkraft auf die Fahnen geschrieben hatten. Vor zwei Jahren sei es zum großen nationalen Konsens darüber gekommen. „Kretschmann, s‘hat sich scho g‘lohnt“, habe er als frischgebackener Ministerpräsident in dieser „Sternstunde“ zu sich selbst gesagt.

Zielstrebig kam der grüne Landesvater auf sein viel beachtetes Treffen mit Bayern-Chef Seehofer zu sprechen. Dabei sei es ausschließlich um Sachfragen gegangen, widersprach er Gerüchten. „Es gibt auch Politiker, die für die Sache kämpfen“, meinte er unter Applaus. Baden-Württemberg und Bayern hätten ähnliche Voraussetzungen: Beide bräuchten Gaskraftwerke für die Übergangszeit nach Abschaltung der hier recht zahlreichen Atomkraftwerke. Auch an weniger windhöffigen Standorten könnten zudem dank dem technischen Fortschritt durch Windräder gute Erträge erwirtschaftet werden. Kretschmann räumte im Hinblick auf Widerstand in der Bevölkerung gegen Windräder ein, dass immer ein Abwägen erforderlich sei, machte aber auch seinen Standpunkt unmissverständlich klar: „Wenn wir nichts gegen den Klimawandel tun, wird sich die Landschaft viel dramatischer verändern, als wenn wir ein paar Windräder aufstellen.“ Außerdem könne man die Räder recyceln, falls in 30 Jahren etwas Besseres existiere – „das geht mit dem Atommüll leider nicht.“

Während beim urgrünen Thema der Förderung erneuerbaren Energien die Landesregierung gute Noten erhalte, sei ein anderer Bereich in der Kritik: die Bildungspolitik. „Wir sind ein reiches, aber leider kinderarmes Land“, nannte Kretschmann den Hauptgrund für Reformen. Ziel sei ein Zwei-Säulen-Modell, bei dem die Gemeinschaftsschule die eine, die Gymnasien die andere Säule darstelle. Der Ministerpräsident ließ keinen Zweifel daran, dass das Schulsystem angesichts dramatisch sinkender Schülerzahlen nicht unverändert bleiben könne und warnte vor dem Glauben, dass das, was in der Vergangenheit erfolgreich war, zwingend auch in der Zukunft erfolgreich sein werde. – So habe man in Baden-Württemberg, dem Land der Innovationen, nie gedacht. Er äußerte Verständnis dafür, dass ein neues, weitgehend unbekanntes Schulsystem wie die Gemeinschaftsschule von der Bevölkerung nicht gleich Bestnoten erhalte. Allerdings solle man Politik nicht an Umfragen ausrichten, sondern an dem, was richtig erscheine.

Auch der Kirchheimer Landtagsabgeordnete der Grünen, Andreas Schwarz, betonte in seinem Grußwort die Bedeutung der Gemeinschaftsschule, die für nichts Geringeres stehe als für Bildungschancen für alle. Als Wichtigstes unter den nachhaltigen Themen nannte er neben Klimaschutz und Energiewende die Mobilität, auf die ein wirtschaftsstarker Landkreis wie der Kreis Esslingen wesentlich angewiesen sei. Dem Ministerpräsidenten gab er konkret die Bitte mit, sich im Bundesrat starkzumachen für eine Nachfolgeregelung des 2019 auslaufenden Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes. Selbiges stützt den Ausbau des Nahverkehrs. Schwarz betonte, dass das Land noch zahlreiche Projekte in der Pipeline habe, um den Verkehr von der Straße auf die Schiene zu lenken.

Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker ergänzte die Liste nachhaltiger Projekte unter Führerschaft von Kommunen um die Stichworte soziale Netzwerke sowie Integrationsarbeit, die in Kirchheim seit über 20 Jahren aktiv betrieben wird. Als sich der Ministerpräsident ins Goldene Buch der Stadt eintrug, nutzte auch sie die Gelegenheit, um Unterstützung zu bitten. Beispielsweise dafür, dass Kirchheim einen vollständigen Autobahnzubringer erhält zum Abtransport des Aushubs am Tunnelende der Schnellbahntrasse. Dadurch soll die Verkehrsbelastung in der Stadt reduziert werden. Kretschmann stärkte den Stadträten, die sich zu seinem Besuch versammelt hatten, den Rücken bei ihrem wichtigen ehrenamtlichen Engagement. Er hoffe auf eine hohe Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl im Mai, denn dies bedeute Rückenwind für ihre Arbeit.

Für politisches Engagement in Kreis und Region warben in einer Talkrunde Marianne Erdrich-Sommer, Fraktionschefin der Grünen im Kreis, sowie Dr. Ludger Eltrop von den Grünen im Verband Region Stuttgart. Erdrich-Sommer beschrieb den Auslöser für ihr politisches Engagement vor einem Vierteljahrhundert: Damals sollte sozusagen vor ihrer Haustür eine Müllverbrennungsanlage gebaut werden. Vom Müll habe sie sich jedoch schnell thematisch entfernt. Heute bezeichnet sie Finanzpolitik als das A und O. Dr. Eltrop nannte als wichtiges Thema seiner Tätigkeit im Wirtschaftsausschuss die Ressourceneffizienz im Land und pochte darauf, dass mit grünen Ideen auch schwarze Zahlen geschrieben werden könnten.

Über dieses und viele andere Themen diskutierte das Publikum, das beim Neujahrsempfang im Alten Gemeindehaus politisch bunt gemischt war, im Anschluss ausgiebig.

„Das machen doch nicht wir – das machen Sie!“ Erklärung des Ministerpräsidenten, wonach die Schulreform nichts anderes sei als eine Reaktion der Politik auf den Geburtenrückgang.

„Ich begrüße Sie in Kirchheim, dem Ort der politischen Krabbelgruppe unseres grünen Landtagsabgeordneten.“ – Umschreibung des Jugendgemeinderats, dem Andreas Schwarz einst angehörte, durch die Oberbürgermeisterin.

Winfried Kretschmann- Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg - Neujahrsempfang Bündnis90/die Grünen, Kreisverband Esslin
Winfried Kretschmann- Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg - Neujahrsempfang Bündnis90/die Grünen, Kreisverband Esslingen, im Alten Gemeindehaus Kirchheim, mit Winfried Kretschmann