Lokales

Selbst ein „Grüß Gott“ war verboten

Brigitte Kneher berichtet am Schlossgymnasium vom Schicksal der Juden in Kirchheim

Zum Holocaust-Gedenktag sprach Brigitte Kneher gestern am Kirchheimer Schlossgymnasium über die Schicksale der Kirchheimer Juden im „Dritten Reich“. Ihr großes Anliegen ist „das Gedenken an das, was da passiert ist: Menschen, Mitbürger – auch Kirchheimer Mitbürger –, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen, wurden einfach umgebracht“.

Andreas Volz

Kirchheim. Seit vielen Jahren schon gibt es am Schlossgymnasium ein besonderes Programm, um den 27. Januar, den Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, als Holocaust-Gedenktag angemessen zu begehen. An diese Tradition erinnerte Bernd Löffler – einer der organisierenden Lehrer – in seiner einleitenden Rede. So war es am „Schloss“ bereits mehrfach um die Swing-Musik gegangen, die während der Nazi-Herrschaft in Deutschland als „amerikanisch-dekadent“ verpönt war. Folgerichtig spielte auch gestern die Big-Band unter der Leitung von Jochen Scheytt Swing.

Als einen „Höhepunkt“ des Holocaust-Gedenkens bezeichnete Bernd Löffler eine Reise mit Kirchheimer Gymnasiasten nach Auschwitz. An diese Reise erinnerten gestern auch mehrere Informationstafeln, die die Schüler vor sieben Jahren zusammengestellt hatten. – Vor sechs Jahren wiederum hatte Jan Jakubowski, ein Holocaust-Überlebender, in einem beeindruckenden Vortrag und mit allerletzter Kraft aus seinem Buch „Mein Überlebenskampf mit Beteiligung des Himmels“ gelesen.

Bernd Löffler, der zum Schuljahresende seinen Ruhestand antritt und deshalb keine weiteren Gedenktage mehr organisieren wird, sprach nach diesem Rückblick auch über seine Motivation, das Gedenken hochzuhalten: „Mit 14 Jahren habe ich zum ersten Mal davon gehört, dass die Nazis sechs Millionen Juden ermordet haben. Das hat mich schockiert, und das schockiert mich heute noch. Das war auch einer der Gründe, warum ich Lehrer geworden bin: Ich wollte durch meine pädagogische Arbeit dazu beitragen, dass es nie wieder so etwas wie Auschwitz gibt.“

Brigitte Kneher, die die Geschichte der Kirchheimer Juden erforscht hat, begann ihren Vortrag ebenfalls mit einer eigenen Erinnerung, in diesem Fall an ihre Kindheit: In Göppingen hatte sie erlebt, wie ihre Mutter eine Frau mit Blicken grüßte. Die Mutter war stumm geblieben, weil das Grüßen von Juden verboten war. Sie hätte also auch wegen des stummen Grußes schon die größten Scherereien bekommen können.

Wie real die Gefahr für die Grüßenden war, belegte Brigitte Kneher an zwei Beispielgeschichten aus Kirchheim: „Eine Nachbarin wollte Frau Reutlinger kondolieren, weil deren Schwägerin kurz zuvor gestorben war. Sie musste sich für die Beileidsbezeugung auf dem Rathaus verantworten. Jemand hatte sie denunziert.“ Die zweite Geschichte ist ganz ähnlich: „Eine Bekannte sagte zu Frau Bernstein ,Grüß Gott‘. Und Frau Bernstein antwortete ihr: ,Mach das nicht, du kriegst nur Schwierigkeiten‘.“

Diese Art von Kontaktverbot galt übrigens auch schon für Schulkinder: Von Renate Reutlinger wusste Brigitte Kneher zu berichten, dass das Mädchen von einem Tag auf den anderen nicht mehr zur Schule gehen durfte und dass es auch ihren Freundinnen verboten war, mit ihr zu sprechen oder gar zu spielen: „Sie war plötzlich ganz allein.“ Selbst dem Kindermädchen war es verboten worden, weiterhin bei Juden zu arbeiten.

Die Rettung Renate Reutlingers und ihrer Mutter Elly erfolgte auf ausgesprochen dramatische Weise: Mit dem Schiff „St. Louis“ gelangten sie zwar nach Kuba, durften dort aber nicht an Land gehen. Auch die Behörden in den USA wollten die 900 Menschen an Bord nicht einreisen lassen und schickten das Schiff zurück nach Europa. In England, Frankreich, Belgien und den Niederlanden fanden die Passagiere kurzfristig Schutz, bis nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs – je nach Exilland – erneut der Tod drohte. Nur dadurch, dass sie einem Lagerleiter ein wertvolles Briefmarkenalbum schenkten, ist es Mutter und Tochter Reutlinger schließlich doch noch gelungen, zum Vater in die USA zu gelangen.

Die Geschichte mit dem Titel „Renate“ ist in der Kirchheim-Info im Max-Eyth-Haus als Broschüre erhältlich, in deutscher wie in englischer Sprache. Ebenso lässt sich dort die Broschüre „Stolpersteine“ erwerben, in der die Schicksale beleuchtet werden, auf die im Kirchheimer Straßenpflaster Stolpersteine aufmerksam machen: die Schicksale von Juden, aber auch von Zwangsarbeitern, die ums Leben kamen. Stolpersteine waren auch gestern auf dem Schulhof nachgeahmt worden: Sie wiesen den Weg zur Veranstaltung in der Mensa.

Kenntnisreich berichtete Brigitte Kneher den versammelten Neuntklässlern von allen jüdischen Familien Kirchheims, deren Mitglieder entweder ermordet wurden oder sich zur Auswanderung gezwungen sahen. Einer, der nicht auswandern wollte, war Emil Salmon. Schließlich hatte er im Ersten Weltkrieg für Deutschland gekämpft und dabei seinen rechten Arm verloren. Er zog mit Frau und Sohn nach Karlsruhe. 1940 wurden aber alle badischen Juden eines Nachts abgeholt und ins südfranzösische Gurs gebracht. Von dort wiederum ging es 1942 nach Auschwitz. „Dort kam auch Emil Salmon ums Leben“, sagte Brigitte Kneher.

In vielen weiteren Geschichten ging es um Kirchheimer Juden, die sich in der Feuerwehr, in der Sanitätskolonne oder auch im Sportverein engagierten und dort sogar zu Ehrenmitgliedern ernannt worden waren. Der Kirchheimer Torwart schlechthin sei damals Kurt Vollweiler gewesen. Als Jude durfte er aber nicht mehr Fußball spielen. 1987 kam er auf Einladung der Stadt Kirchheim und nach Kontaktaufnahme durch Brigitte Kneher auf Besuch zurück in seine Heimatstadt. „Er hat sehr darunter gelitten, dass er aus Kirchheim wegmusste“, erinnert sich Brigitte Kneher.

Die Rückkehr der Überlebenden, die Brigitte Kneher wesentlich mitorganisiert, in die Wege geleitet und überhaupt erst möglich gemacht hat, gehört zum Eindrücklichsten, von dem sie gestern berichtete. Philipp Bernstein beispielsweise, der Lehrer werden wollte, als Jude damals aber keinerlei Möglichkeit bekam, seinen Traumberuf erlernen zu können, sei 1987 aus Israel angereist und habe in Kirchheim zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder Deutsch gesprochen. Der Besuch habe es ihm sogar ermöglicht, sich mit seinem Schicksal und seinem eigentlichen Heimatland so weit auszusöhnen, dass er als Musiker wieder zu Noten von deutschen Komponisten greifen konnte.

Viele der alten Kirchheimer seien noch mehrfach auf Besuch gekommen. Mittlerweile kommen auch ihre Kinder und Enkel. Mit dieser Aussage am Schluss ihres Vortrags knüpfte Brigitte Kneher an den Appell Bernd Löfflers an, der zu den Neuntklässlern gesagt hatte: „Gedenkt des Holocausts, und gebt das auch an eure Kinder und Kindeskinder weiter.“