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„Wahnwitziges Attentat“ mit großer Wirkung

Was der Teckbote vor hundert Jahren – im Sommer 1914 – über die Entstehung des Ersten Weltkriegs „live“ erzählen konnte

Heute vor hundert Jahren, am Sonntag, 28. Juni 1914, sind der österreichisch-ungarische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, und seine Frau Sophie, Herzogin von Hohenberg, in Sarajevo den Schüssen des Attentäters Gavrilo Princip zum Opfer gefallen.

Im Rückblick ist die Entwicklung, die von den beiden Revolverschüssen zu den Kriegserklärungen des Deutschen Reichs an Russland (1. August) und an Frankreich (3. August) führte, konsequent. Sie ergibt sich daraus, dass Österreich-Ungarn das Königreich Serbien beschuldigte, nichts gegen die Attentatspläne unternommen und die Täter sogar unterstützt zu haben. Die Antwort Serbiens auf das österreichische Ultimatum, die Hintergründe aufzuklären, wurde in Wien für unzureichend erklärt. Somit begann die Donaumonarchie am 28. Juli ihren Krieg gegen Serbien.

Dieser Krieg setzte eine Kettenreaktion von Bündnisverpflichtungen in Gang: Russland machte als serbische Schutzmacht mobil. Genauso verhielt sich das deutsche Kaiserreich, um Österreich-Ungarn gegen Russland beizustehen. Frankreich war mit Russland verbündet, sodass Deutschland – aus strategischen Überlegungen heraus – auch Frankreich den Krieg erklärte. Um einen militärischen Vorteil gemäß dem „Schlieffen-Plan“ zu erlangen, marschierten deutsche Soldaten durch Belgien. Als Hüter der belgischen Neutralität erklärte Großbritannien am 4. August Deutschland den Krieg: Aus dem Attentat und dem österreichisch-serbischen Konflikt war innerhalb eines guten Monats der gefürchtete „Weltenbrand“ geworden.

Die Spannungen, die das Attentat hervorgerufen hatte, hätten sich durchaus friedlich beilegen lassen – wie das bereits in vielen anderen Konflikten gelungen war. Im Juli 1914 sprachen also keineswegs alle Anzeichen für einen unausweichlich bevorstehenden Weltkrieg. Auch in Kirchheim ging das Leben geordnet und friedlich weiter, wie ein Blick in den Teckboten-Band von 1914 zeigt: Schon am Tag nach den ersten Attentatsberichten aus Sarajevo ist die Titelseite dominiert vom Nachbericht über die Eröffnung der neuen „Kraftwagenlinie“, die Oberlenningen und Urach mit Blaubeuren verband. Die „Zeit des modernen Verkehrslebens“ wurde damals bejubelt. Die neue Buslinie war anscheinend so herbeigesehnt worden wie in jüngster Zeit die Verlängerung der S-Bahn von Plochingen nach Kirchheim.

Erst das letzte Sechstel der Titelseite vom Dienstag, 30. Juni 1914, steht unter der Überschrift: „Weiteres zur Ermordung des österreichischen Thronfolgerpaares.“ Wirklich neu sind die Informationen aber nicht, gemessen an dem, was die Teckboten-Leser bereits am Vortag erfahren hatten: Am 29. Juni 1914 stand auf der Titelseite nichts anderes als die verschiedensten Nachrichten aus „Serajewo“. In dieser Schreibweise wird die bosnisch-herzegowinische Hauptstadt 1914 im Teckboten durchgehend erwähnt.

„Ein wahnwitziges Attentat.“ So beginnt die allererste Berichterstattung in der Kirchheimer Zeitung. Als nächstes folgt der Wortlaut eines Telegramms aus Wien, in dem das Ereignis in wenigen Worten zusammengefasst ist: „Ein Gymnasiast gab in Serajewo auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand u. dessen Gemahlin 2 Revolverschüsse ab. Beide wurden schwer verletzt und starben alsbald.“ Dass gleich beide Schüsse tödlich waren, ist ein unglücklicher Zufall, in dessen Folge in den nächsten viereinhalb Jahren Millionen von Menschen ihr Leben lassen mussten.

Es folgt eine detailliertere Beschreibung, beginnend mit dem ersten Attentatsversuch – einem Bombenanschlag auf das „erzh[erzogliche] Automobil“, dem das fürstliche Paar noch entgehen konnte. Unter anderem wurden im nachfolgenden Auto zwei Personen aus der Entourage verletzt. Einer der beiden war der Oberstleutnant Erik von Merizzi. Beim anschließenden Empfang im Rathaus von Sarajevo äußerte sich Franz Ferdinand „in scharfem Ton“, wie der Teckbote berichtet: „Herr Bürgermeister! Da kommt man nach Serajewo, um einen Besuch zu machen, und man wirft auf einen Bomben. Das ist empörend!“

Dass das tödliche Attentat ohne das erste – fehlgeschlagene – wohl gar nicht möglich gewesen wäre, deutet der Teckbote zunächst nur an: „Nach der Besichtigung des Rathauses [...] wollte der Erzherzog in das Garnisonslazarett fahren, um den verwundeten Oberstleutnant zu besuchen.“ Der spontane Besuchswunsch brachte das Besichtigungsprogramm durcheinander. Es gab Verwirrungen wegen der geänderten Fahrtroute, sodass der offene Wagen des Erzherzogs – Marke Gräf & Stift, heute samt gut sichtbarem Einschussloch im Heeresgeschichtlichen Museum in Wien ausgestellt – wenden musste. Just in diesem Moment konnte Gavrilo Princip seine Schüsse abgeben.

Die erste Kugel durchschlug die Fahrzeugwand und traf Herzogin Sophie im Unterleib. Davon ist im Teckboten-Bericht gleich dreimal die Rede. Bei Franz Ferdinand widersprechen sich die Angaben. Einmal heißt es, er sei „im Gesicht“ getroffen worden, ein anderes Mal „nahe der Schläfe“. Erst die dritte Schilderung ist korrekt: „Der erste Schuß, der durch das Automobil durchging, durchbohrte die rechte Bauchseite der Herzogin, der zweite Schuß traf den Erzherzog neben der Kehle und durchbohrte die Halsschlagader.“

Ebenfalls historisch korrekt sind die Angaben des Teckboten zum Täter: „Der Attentäter Gavrilo Princip ist 19 Jahre alt und aus Grahovo im Bezirk Livno gebürtig. Er gab bei seinem Verhör an, die Absicht gehabt zu haben, irgend eine hohe Persönlichkeit aus nationalistischen Motiven zu töten. Er habe [...] auf die Vorbeifahrt des Erzherzogs auf dem Appelquai gewartet und als das Automobil auf der Rückfahrt vom Rathaus beim Einbiegen in die Franz Joseph-Gasse die Fahrt verlangsamen mußte, den Anschlag ausgeführt. Einen Moment habe er gezögert, da auch die Herzogin von Hohenberg sich im Automobil befand, dann aber rasch zwei Schüsse abgegeben.“ Fraglich bleibt, ob er auch geschossen hätte, wenn ihm bewusst gewesen wäre, welche immensen Folgen für den Gang der Weltgeschichte seine fatalen Schüsse haben würden.

Es hätte ihm zumindest bewusst sein können, denn über mögliche Folgen spekuliert der Teckbote bereits am Dienstag, 30. Juni: „Groß für Oesterreich, für die Entwicklung der Dinge im Balkan, ja vielleicht für ganz Europa sind die politischen Wirkungen“. Bei der Suche nach dem Motiv für das Attentat wird der Teckbote schnell fündig: bei der „großserbischen Bewegung“. Vielen Serben war es ein Dorn im Auge, dass die Donaumonarchie Bosnien-Herzegowina seit 1878 verwaltet und 1908 sogar annektiert hatte. Sie waren der Meinung, das Gebiet müsse zu Serbien gehören – ungeachtet der Tatsache, dass dort nicht nur Serben, sondern auch Kroaten und Bosniaken lebten, die nichts mit Serbien zu tun hatten.

Fast schon objektiv schreibt der Teckbote über die Motive der Attentäter: „In den Köpfen und Herzen der feurigen Jugend schnellen solche patriotische Gefühlsmomente maßlos rasch, die Ueberschwenglichkeit wird zum Fanatismus, der dann mangels richtiger Einsicht und Mäßigung, die das Alter auszeichnet, zu solch künstlichen Explosionen führt. Mit solchen nationalistischen Fanatikern scheinen wir es auch hier zu tun zu haben, die in ihrem Wahne glaubten, ihrer Idee durch Ermordung einer Persönlichkeit, die den Gegenstand ihres Hasses in hervorragendem Maße repräsentiert, Geltung zu verschaffen. Daß ein Manöver den äußeren Anlaß dazu bieten konnte, ist psychologisch begreiflich. Hier, wo die Macht und Schlagfertigkeit nach außen gezeigt werden soll, mochte sich der Haß und Groll gegen diesen Staat in einer kochenden Seele am leichtesten zur Tat umsetzen.“

Dann folgen andere Töne: „Man wird nichts unversucht lassen, der Verschwörung – denn mit einer solchen haben wir es zu tun, auf die Spur zu kommen. Der Anschlag hat sich in seinen Einzelheiten als so genau vorbereitet erwiesen, daß er nur auf der Grundlage einer sorgfältigen Organisation und unter Beihilfe mehrerer Personen möglich war. Wie weit es gelingen wird, das Uebel an der Wurzel zu fassen, ist vorerst abzuwarten.“ Aus dem letzten Satz ergibt sich bereits die öffentliche Forderung nach Genugtuung für Österreich-Ungarn.

Am Mittwoch, 1. Juli 1914, berichtet der Teckbote über Reaktionen aus dem Ausland: Aus Paris wird gemeldet, dass Ministerpräsident René Viviani „den Gefühlen des Beileids und der achtungsvollsten Sympathie gegenüber dem Kaiser Franz Joseph Ausdruck“ gibt. In London nimmt das Unterhaus eine Adresse an den englischen König an, „in der das Haus seiner Empörung über die Ermordung Erzherzog Franz Ferdinands und seiner Gemahlin Worte verleiht und den König bittet, dem Kaiser und König Franz Josef den Ausdruck des Abscheus des Hauses über das Verbrechen und die tiefe Teilnahme mit der kaiserlichen und königlichen Familie, sowie mit den Regierungen und Völkern der Doppelmonarchie zu übermitteln“. Und aus Petersburg verlautbart: „Aus Anlaß der Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand und der Herzogin von Hohenberg hat Kaiser [ein Synonym für „Zar“] Nikolaus an Kaiser Franz Josef ein Beileidstelegramm gesandt.“

Angesichts solcher Reaktionen sprach in Kirchheim kaum etwas dafür, dass nur einen Monat später ein Weltkrieg ausbrechen könnte – mit jenen Soldaten als Gegnern, die „London“, „Paris“ und „Petersburg“ ins Feld schicken würden. Aber am gleichen Tag schreibt der Teckbote auch über die Politik Österreich-Ungarns: Es zeige sich, „daß die bisherige gutmütige Haltung der Monarchie an Stellen, die für europäische Art kein Verständnis haben [damit wird das Königreich Serbien zu einer Art „Schurkenstaat“ erklärt], mißverstanden und als Zeichen von Schwäche oder Machtlosigkeit gedeutet wird“. Für ganz Bosnien wird außerdem von anti-serbischen Kundgebungen berichtet, wobei der Teckbote am 1. Juli 1914 schon die dräuende Weltkriegsgefahr andeutet: „Die elementare Wucht, mit der nicht nur in Serajewo, sondern auch in anderen Städten Bosniens die kroatische und muselmanische Bevölkerung gegen die serbischen Oppositionsparteien sich wendet, läßt die Gefahr internationaler Verwicklungen befürchten.“

Das „Serbische Preßbureau“ gibt Beschwichtigungen ab. Davon zitiert der Teckbote unter anderem: „Der serbischen Regierung, die alles tut, um die Beziehungen zwischen Oesterreich-Ungarn und Serbien auf eine freundschaftliche Grundlage zu stellen, sind Ereignisse, wie das jüngste in Serajewo, ebenso unangenehm, wie der österreichisch-ungarischen, und sie wird nichts unterlassen, soweit es in ihrer Macht steht, damit die Geister sich beruhigen und die Beziehungen normal werden.“

Die Beschwichtigungen scheinen nichts zu nutzen: Schon am Donnerstag, 2. Juli 1914, berichtet der Teckbote über Beschuldigungen, die in österreichisch-ungarischen und in serbischen Zeitungen über die jeweilige Gegenseite abgedruckt sind. So wird die „Neue Freie Presse“ aus Wien mit ziemlich undiplomatischen Worten zitiert: „Wie man in Serbien wagen kann, die Ermordung des Thronfolgers und seiner Gemahlin zu verherrlichen, übersteigt das Maß von Bosheit, welche wir aus Serbien gewohnt sind. Wird man sich denn angesichts dieser Tatsachen noch immer nicht zu dem unabwendbaren energischen Schritt gegen dieses Volk der Fürstenmörder aufraffen können?“

Die übrigen Meldungen zum Attentat beziehen sich in der Woche danach vor allem auf die langwierige Überführung der fürstlichen Leichen vom Tatort Sarajevo zum Beisetzungsort – Schloss Artstetten in Niederösterreich. Ansonsten scheint das Leben seinen normalen Gang zu gehen: Am Tag nach dem Attentat schreibt der Teckbote, die Zeitungen hätten die Nachricht vom Mordanschlag „durch Extrablätter“ verbreitet – was heutigen Eilmeldungen bei Nachrichtenportalen im Internet entspricht. Bereits im nächsten Bericht aus Kiel heißt es: „Die Regatten erleiden keine Unterbrechung“.

Aus Kirchheim lautet am Freitag, 3. Juli 1914, die erste amtliche Meldung auf der Titelseite: „Die Gemeindebehörden werden beauftragt, etwaige Anträge auf Verleihung des Feuerwehrdienstehrenzeichens […] vorzulegen.“ Auf Seite 2 folgt ein Bericht aus „Stadt und Umgebung“, der sicher bedeutender erschien als die Ereignisse in Sarajevo: „Das langersehnte heiße Wetter ist nunmehr eingetreten, wodurch die Heuernte ungemein gefördert wird. Für die Traubenblüte, wie für die Feldfrüchte im allgemeinen kam dieser Umschwung recht gelegen.“ Das klingt nach tiefstem Frieden. Nichts deutet angesichts von Feuerwehrdienstehrenzeichen, Heuernte und Traubenblüte darauf hin, dass in kurzer Frist der Tod beginnen würde, seine furchtbare Ernte auf den Schlachtfeldern einzufahren – auch mit zahlreichen Opfern aus Kirchheim und Umgebung.