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Wann ist ein Mann ein Mann?

Warum Jugendliche mit Migrationshintergrund öfter gewalttätig werden als deutsche

Ticken türkische Jungen und Männer anders als deutsche? Warum tauchen sie in der Kriminalitätsstatistik häufiger auf als ihre deutschen Geschlechtsgenossen? Darum ging es bei einer Veranstaltung des Kirchheimer Arbeitskreises Jungen im Alten Gemeindehaus.

Jugendliche mit Migrationshintergrund werden häufiger gewalttätig als deutsche. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich öft
Jugendliche mit Migrationshintergrund werden häufiger gewalttätig als deutsche. Das liegt unter anderem daran, dass sie sich öfter in sozialen Lebenslagen befinden, die anfällig machen für Gewalt.Archivfoto: Jean-Luc Jacques

Kirchheim. Dieser Fall hat die ganze Nation aufgewühlt: Zwei junge Männer prügeln in der Münchner U-Bahn auf einen alten Mann ein, treten ihm gegen den Kopf und fügen ihm lebensgefährliche Verletzungen zu. Der Mann hatte die beiden lediglich gebeten, ihre Zigaretten auszumachen. Die Gewalttäter sind mehrfach vorbestraft, ihre Vorfahren stammen aus Griechenland und der Türkei. Die U-Bahn-Schläger, wie sie in den Medien genannt werden, sind seither in der öffentlichen Wahrnehmung Prototypen jugendlicher Intensivtäter: brutal, ohne Reue und mit Migrationshintergrund.

Sind Jugendliche, deren Eltern aus der Türkei, aus Albanien oder Russland stammen, gewalttätiger als deutsche Jugendliche? Gibt es so etwas wie eine migrantische Männlichkeit? Diesen Fragen ging Dr. Kurt Möller, Professor für soziale Fragen an der Hochschule Esslingen, in seinem Vortrag nach. Eingeladen hatte der Arbeitskreis Jungen, ein Zusammenschluss von Sozialpädagogen verschiedener Organisationen, die mit Jungen und Männern arbeiten.

Eines lässt sich nicht von der Hand weisen: Jugendliche mit Migrationshintergrund sind häufiger gewalttätig als deutsche. Die Zahl der sogenannten Intensivtäter, die immer wieder zuschlagen, ist ebenfalls größer. Allerdings ist der Unterschied laut Möller längst nicht so eklatant wie viele Untersuchungen das vermuten lassen. In solchen Studien – die bekanntesten sind wohl die von Christian Pfeiffer mitverantworteten Untersuchungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen – würden in der Regel deutsche Jugendliche jenen mit Migrationshintergrund gegenübergestellt. „Das ist, als ob man Äpfel mit Birnen vergleicht“, sagt Kurt Möller. Vielmehr müsse man deutsche Wiederholungstäter und solche mit Migrationshintergrund vergleichen.

Obwohl der Unterschied bei einem solchen Vergleich längst nicht mehr so groß ist, bleibt der Anteil jugendlicher Gewalttäter mit Migrationshintergrund höher. Warum ist das so? Werden die türkischen, albanischen oder russischen Jungen durch ihr Umfeld so geprägt, dass sie automatisch zu Schlägern werden? Nein, sagt Kurt Möller. Für ihn ist es eine Verkettung ungünstiger Umstände, die einen jungen Mann zum Gewalttäter werden lassen. „Jungen oder Männer mit Migrationshintergrund befinden sich überproportional oft in prekären Lebenslagen, die anfällig machen für Gewalt.“ Das können zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Gewalterfahrungen sein.

Natürlich werde nicht jeder, der als Kind Gewalt oder Arbeitslosigkeit erlebt habe, gleich zum Schläger. Laut Kurt Möller muss noch etwas hinzukommen: Das Aufwachsen in einem Umfeld, in dem sogenannte gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen als Weg propagiert werden, aus dieser misslichen Lage herauszukommen. Wer gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen zustimmt, bejaht Aussagen wie „Ein Mann, der nicht bereit ist, sich gegen Beleidigungen mit Gewalt zu wehren, ist ein Schwächling“, „Wenn eine Frau ihren Mann betrügt, darf der Mann sie schlagen“ oder „Ein richtiger Mann ist bereit, sich mit körperlicher Gewalt gegen jemanden durchzusetzen, der schlecht über seine Familie redet“.

An dieser Stelle, so Möller, müssten Pädagogik und soziale Arbeit ansetzen. Eine Aufgabe der Lehrer, Sozialpädagogen und Schulsozialarbeiter sieht er darin, das System männlicher Hegemonie zu problematisieren und sozial akzeptable Normen vorzuleben. Außerdem müssten sie Alternativen anbieten. „Ganz wichtig ist es, nicht als Moralapostel aufzutreten“, sagt Kurt Möller. Beispielsweise bringe es nichts, einfach nur zu sagen „Gewalt ist schlecht“, wenn der Jugendliche die Erfahrung gemacht hat, dass er sich nur mit Gewalt Respekt verschaffen kann.

Als problematisch sieht Kurt Möller die Tendenz in staatlichen Institutionen, zum Beispiel der Polizei, an, Jugendliche aufgrund ihrer Herkunft zu beurteilen, sie zu ethnisieren. „Wer ethnisiert, der macht Menschen zu Abweichlern von einem angenommenen Standard, verweist auf etwas Fremdes“, so Kurt Möller. Allein schon die Bezeichnung „Menschen mit Migrationshintergrund“, die eigentlich ein Ordnungskriterium aus der deutschen amtlichen Statistik ist, wirke ethnisierend. Die Bezeichnung gehe längst an der Lebenswelt der Jugendlichen vorbei, die diese Unterscheidung selbst nicht mehr vornehmen. Zudem wirke der Begriff ausgrenzend. „Die Ethnisierung bringt Jugendliche hervor, die sich nicht gewünscht fühlen und sich deshalb in Nischen zurückziehen“, sagt Kurt Möller. Folgen seien Phänomene wie die Neoislamisierung.