Lokales

Was die Familien überliefert haben

Teckbote und Stadtarchiv starten das Projekt „Erzählte Geschichte – 100 Jahre Erster Weltkrieg“

Was das Jahr 2014 bringen mag, das steht noch weitgehend in den Sternen. Eines aber ist jetzt schon sicher – es wird das Jahr des kollektiven Gedenkens an den Beginn des Ersten Weltkriegs. Der Teckbote startet aus diesem Anlass in Kooperation mit dem Kirchheimer Stadtarchiv einen Leseraufruf: Es geht darum, festzuhalten, was in den Familien in Kirchheim und Umgebung überliefert wurde.

Serie 100 Jahre erster Weltkrieg Gedenktafel auf dem Alten Friedhof in Kirchheim
Serie 100 Jahre erster Weltkrieg Gedenktafel auf dem Alten Friedhof in Kirchheim

Andreas Volz

Kirchheim. Heute vor hundert Jahren konnte kaum jemand ahnen, wie folgenreich sich das Jahr 1914 entwickeln würde. Zweifellos war die Zeit stark vom Militarismus geprägt – nicht nur, aber insbesondere im wilhelminischen Deutschland. Seit Jahren gab es internationale Verwicklungen und Krisen, die – oftmals ausgelöst durch unbedachte Äußerungen des säbelrasselnden deutschen Kaisers – einzelne Staaten, Europa oder gar die ganze Welt an den Rand eines Krieges brachten. Bislang waren diese Krisen aber hauptsächlich diplomatisch gelöst worden, sehr zum Bedauern vieler Armeeangehöriger: Sie warteten in vielen europäischen Ländern auf ihre „Bewährungsprobe“ und wollten sich wie ihre Väter und Vorväter im Krieg beweisen. Aber dennoch gab es zum Jahreswechsel 1913/1914 keine Anzeichen dafür, dass der große Krieg bereits im Sommer ausbrechen würde.

Die groben Zusammenhänge sind allgemein bekannt und vielfach beschrieben: Das Attentat von Sarajevo, dem der österreichisch-ungarische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914 zum Opfer fielen, sorgte für heftige diplomatische Verwicklungen zwischen der k.u.k. Monarchie und dem Königreich Serbien. Unterstützungszusagen (aus Russland für Serbien sowie aus Deutschland für die Donaumonarchie) sorgten für wechselseitige Kriegserklärungen. Das Deutsche Reich erklärte unter anderem Frankreich den Krieg. Die Verletzung der belgischen Neutralität durch deutsche Truppen führte zum Kriegseintritt Großbritanniens, sodass sich Anfang August 1914 fast ganz Europa im Kriegszustand befand.

Bilder von Soldaten, die Blumensträuße in der Hand tragen oder Blumen im Gewehrlauf stecken haben, von jungen Männern, die begeistert von Eisenbahnwaggons winken und in den Krieg ziehen, der bis Weihnachten siegreich beendet sein soll, sind im kollektiven Gedächtnis fest verankert. Was allerdings auf diese Bilder euphorischer Menschen folgen sollte, das sind Fotos von zerstörten Landschaften, vom Grauen in den Schützengräben, von furchtbar entstellten Leichen, und günstigstenfalls Bilder von Verwundeten im Lazarett.

Wie aber haben sich der Krieg, die Kriegsbegeisterung und das Kriegsgrauen in Kirchheim und Umgebung ausgewirkt? Anders als im Zweiten Weltkrieg war die Gegend rund um die Teck ja nicht direkt vom Kriegsgeschehen betroffen. Indirekt aber sehr wohl: Es gab in einer Stadt wie Kirchheim, mit knapp 10 000 Einwohnern, sicher keine Familie, zu der nicht mehrere Soldaten gehörten – ob Gefallene oder Überlebende. Der Ausfall von Arbeitskräften wirkte sich ebenso auf die Zurückgebliebenen aus: Plötzlich waren Frauen als Arbeitskräfte in den Fabriken gefragt. Und nicht zuletzt wurden die Lebensmittel knapp. Der Winter 1916/1917 sollte als „Steckrübenwinter“ in die Geschichte eingehen. Von Heroismus bleibt bei diesem Stichwort nicht mehr viel übrig: Hunderttausende starben allein in Deutschland an Hunger und Kälte.

Im Kirchheimer Stadtarchiv hat sich eine Fülle an Materialien erhalten. Vieles davon stammt aus den Beständen des Ersatzbataillons des Reserve-Infanterie-Regiments Nr. 248, das im April 1916 nach Kirchheim verlegt worden war. Stationiert war es im Freihof, weswegen ältere Kirchheimer auch nicht den Begriff „Freihof“ für das Areal am alten Wollmarkt verwendet haben. Sie nannten es einfach „d‘ Kasern‘“.

Andere interessante Archivalien stammen direkt von Kirchheimer Soldaten: Die Stadt schickte – hauptsächlich zu Weihnachten – in den Jahren 1915 bis 1917 „Liebesgaben“ an die Front. Jeder Kirchheimer Soldat erhielt ein Päckchen von seiner Heimatstadt, mit Dingen, die im Krieg nützlich sein konnten. „Unter anderem gab es Birnenschnaps“, sagt Stadtarchivar Dr. Joachim Brüser nahezu hundert Jahre später. Erhalten haben sich aber nicht diese „Liebesgaben“, sondern die Dankschreiben der jungen Männer. „Zehn Stapel Briefe und Karten“ lagern Joachim Brüser zufolge im Stadtarchiv. Sie sind bis jetzt noch nicht namentlich erfasst, aber diese Arbeit soll im Lauf des Jahres erfolgen. Immerhin handelt es sich hier um Schreiben, die die Familienangehörigen wahrscheinlich nie zu Gesicht bekommen haben, waren die Karten doch an das „Verehrl. Stadtschultheißenamt“, an das „Hochwohllöb. Stadtkollegium“ oder an ein „Verehrl. bürgerliches Kollegium“ in Kirchheim gerichtet.

Ende 1917 beziehungsweise Anfang 1918 schreiben die Kirchheimer Soldaten von ihrer Hoffnung auf ein baldiges Kriegsende. „Möge es Gottes Wille sein, daß dies unser letzter Winter im Felde [sei]“, heißt es da, und das Wort „letzter“ ist unterstrichen. „Hoffe, daß der Krieg bald sein Ende findet“, schreibt derselbe Kirchheimer – Joh. Fischer – unter der Angabe „Im Felde, den 26.1.18“. Am „28. Dez 17“ wiederum hatte „Landsturmmann Karl Fritz“ seinen Dank für die Weihnachtsgabe mit der Hoffnung verbunden, „daß sich der allgemeine Wunsch nach Frieden bald erfüllen möge“. Der „Gefr. Karl Dolde“ macht sich am „18. Dezbr. 17“ bereits Gedanken über die Nachkriegszeit: „Möge bald der Frieden in unser Land ziehen u. wir wieder wie früher unserem Berufe nachgehen können, das wollen wir von Herzen wünschen.“

Vielleicht haben sich ähnliche Feldpostschreiben auch in privaten Archiven und Fotoalben erhalten. Beim gemeinsamen Aufruf von Stadtarchiv und Teckbote an die Leserschaft geht es aber nicht nur um schriftliche Hinterlassenschaften, sondern auch um das, was an „erzählter Geschichte“ weitergegeben wurde. Nachdem direkte Zeitzeugen nicht mehr am Leben sind, ist es für die Geschichtsschreibung von großem Interesse, was Überlebende oder Hinterbliebene ihrer Familie und ihren Nachkommen erzählt haben. Das muss nicht viel sein, es kann sich auch um winzige Bruchstücke handeln, um Geschichten aus dem Alltag, um besondere Ereignisse, seien sie tragischer oder anekdotischer Art. Eine ausführliche Beispielgeschichte für solche Familienüberlieferungen ist umseitig aufgeführt.

Wer etwas beizutragen hat, schicke die Erinnerungen an folgende Adresse: Der Teckbote, Alleenstraße 158, 73230 Kirchheim, Stichwort „Erzählte Geschichte – 100 Jahre Erster Weltkrieg“. Noch besser ist der elektronische Weg, per E-Mail an die Adresse redaktion@teckbote.de. Wichtig ist, dass es sich um Personen oder Ereignisse handelt, die mit Kirchheim und Umgebung zu tun haben. Genauso wichtig ist eine Angabe zur Gewährsperson, die die Geschichte erzählt hat. Bei der Nennung von Daten ist es auch hilfreich, auf die Quelle zu verweisen: Fotoalbum, Brief, Stammbuch, Familien-Bibel und dergleichen.

Was an Geschichten in der Redaktion eintrifft, wird nach Möglichkeit im Lauf des Jahres im Teckboten veröffentlicht. Kürzungen und Zusammenfassungen behält sich die Redaktion vor. Auf jeden Fall aber werden sämtliche eingehenden Schreiben ans Kirchheimer Stadtarchiv weitergeleitet, wo sie gesammelt und zu gegebener Zeit auch ausgewertet werden sollen.

Auf diese Art und Weise kann, unter aktiver Leserbeteiligung, ein Bild davon entstehen, wie rund um die Teck der Erste Weltkrieg erlebt wurde und wie die Geschichten weitergegeben wurden. Exemplarisch steht jede einzelne Schicksals-Schilderung für viele andere Geschichten, die sich so oder so ähnlich zugetragen haben mögen, ob in Kirchheim oder in vergleichbaren Städten und Dörfern im einstigen Deutschen Reich, in der Donaumonarchie, in England, Frankreich oder Russland – um nur einige wenige der kriegführenden Länder zu nennen. Egal, aus welchem Land ein Soldat stammte, der sein Leben lassen musste, und egal, welcher Nation er sich zugehörig fühlte: Immer gab es Eltern, Geschwister, Frauen, Bräute, Kinder, die um ihn trauerten, die einen einzigartigen Menschen verloren haben und die versuchten, die Erinnerung an diesen Menschen wachzuhalten.

Serie 100 Jahre erster Weltkrieg Gedenktafel auf dem Alten Friedhof in Kirchheim
Serie 100 Jahre erster Weltkrieg Gedenktafel auf dem Alten Friedhof in Kirchheim