Theaterspinnerei und Graffitisprayer arbeiten gemeinsam für das Kirchheimer Eisenbahnjubiläum
Delirium furiosum im Güterschuppen

Das Kirchheimer Eisenbahnjubiläum nimmt am Bahnhof sichtbare Formen an: An der Wand des Güterschuppens ist bereits eine Vorzeichnung zu sehen, die die Umrisse einer Dampflok zeigt. Im Inneren des alten Schuppens, der eigentlich eine ziemlich große Halle ist, wird im Herbst Theater gespielt. Das Stück gibt es zwar noch nicht, aber immerhin hat es schon einen Titel: „Delirium furiosum – nächster Halt Endstation?“

Andreas Volz

Kirchheim. Das Theaterstück ist nur ein Teil der Veranstaltungsreihe, mit der die Stadt Kirchheim an die Tatsache erinnern will, dass 1864 – also vor 150 Jahren – die erste Eisenbahn nach Kirchheim gefahren ist. Es hat sich damals um eine Privatinitiative der Kirchheimer gehandelt, in erster Linie um eine Initiative der Kirchheimer Unternehmer, die vom Fortschritt nicht abgehängt werden wollten. Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker erinnerte gestern bei einem Besichtigungstermin im Güterschuppen an diesen Pioniergeist der Kirchheimer, die ihre Eisenbahnstrecke, von Unterboihingen nach Kirchheim, schlichtweg in Eigenregie bauen ließen. Im Königreich Württemberg wäre die Teckstadt sonst nicht zu einer solch wichtigen, modernen Verkehrsanbindung gekommen. Der Zug wäre ohne Kirchheim abgefahren.

An diese Anfänge der Eisenbahn in Kirchheim soll das Theaterstück erinnern, mit dem die Theaterspinnerei Frickenhausen am 19. September im alten Güterschuppen Premiere feiern will. Mit dem Titel „Delirium furiosum“ freilich setzen die Theatermacher schon wesentlich früher ein als 1864: Bereits bei der ersten Eisenbahn in Deutschland, die 1835 zwischen Nürnberg und Fürth unterwegs war, befürchteten Zeitgenossen, dass die Menschen dem Geschwindigkeitsrausch verfallen könnten.

Stephan Hänlein, der Stückeschreiber der Theaterspinnerei, beschrieb das Delirium furiosum gestern als „die Krankheit, die einen befallen sollte, wenn man sich als Mensch schneller bewegt hat, als es die Natur vorgesehen hatte“. Selbst wer sich an der Bahnstrecke aufhielt und dem Zug lediglich beim Vorbeifahren zuschaute, hätte von dieser Krankheit befallen werden können. So sei es damals zumindest verbreitet worden, obwohl sich das Gutachten, auf das sich die vielen Texte zum Thema berufen, bislang nirgends habe archivalisch belegen lassen.

Aus heutiger Sicht sei die Furcht vor dem Delirium furiosum natürlich absurd, bemerkt Stephan Hänlein. Aber diese Furcht stehe für eine grundsätzliche Angst vor einer neuen Technologie, deren Folgen man noch nicht abschätzen könne. Insofern ist das Stück über die Eisenbahn durchaus auch aktuell, obwohl es mitten hinein ins 19. Jahrhundert führt. Außerdem habe die Eisenbahn sehr viel bewirkt, wenn auch keine schlimmen Krankheitsfälle: „Die Bahn hat das Leben unglaublich beschleunigt. Sie hat im Denken und Handeln der Menschheit viel verändert.“

Jens Nüßle, künstlerischer Gesamtleiter der Theaterspinnerei, freut sich über die Möglichkeiten, die dieses Thema bietet, ebenso wie über die Möglichkeiten des ungewöhnlichen Veranstaltungsorts: Nicht nur der Fortschritt fahre – symbolisiert durch den Dampf – auf dem Zug mit, sondern auch die personifizierte Angst. Außerdem fährt der Theaterzug im Güterschuppen von der Vergangenheit in die Zukunft, also ins Ungewisse. Genauso führten viele Eisenbahnfahrten ins Ungewisse. Deshalb ließen sich viele Geschichten auf einem Bahnsteig erzählen – Geschichten von Abschieden und von Begrüßungen.

Den Bahnsteig müssen die Theatermacher im Güterschuppen nicht erst umständlich als Kulisse bauen – er ist schon da: Er befindet sich zwischen zwei Gleisen, die direkt in die Halle führen. Auf diesen Gleisen sollen im Theaterstück Waggons hin- und herfahren. Einer der Waggons ist sogar mit einer Drehbühne ausgestattet. Und natürlich arbeitet die Theaterspinnerei auch in Kirchheim wieder mit ihrer Projektionstechnik. Weil es besonders schwierig ist, Bilder exakt auf fahrende Waggons zu projizieren, ist in diesem Fall modernste Technik gefragt: Die Frickenhäusener Künstler kooperieren deshalb mit Leuze elctronic aus Owen.

Jens Nüßle ist aber nicht nur von den Dimensionen begeistert, die die Halle aktuell im leergeräumten Zustand aufweist. Was ihn ebenfalls freut, ist das Dach über dem Kopf. So kann die Theaterspinnerei unabhängig vom Wetter agieren, zumal sich die Halle gegebenenfalls auch beheizen lasse. Im Inneren soll längsseitig eine Tribüne entstehen, die 250 Theaterbesuchern Platz bietet. Zusätzlich ist auch Raum für eine einfache Form der Bewirtung vorgesehen. Bis 2. November sind insgesamt 18 Aufführungen geplant. Außerdem gebe es die Möglichkeit, bei großer Nachfrage zu verlängern oder auch Sondervorstellungen einzuschieben. Kartenreservierungen sind jetzt bereits möglich – im Internet unter www.theaterspinnerei.de oder telefonisch unter der Nummer 0 70 22/2 43 56 00.

Der 19. September ist natürlich nicht zufällig als Premierentag gewählt worden. Er bildet den Auftakt zum großen Jubiläumswochenende am 20. und 21. September, an dem die Eisenbahn zusammen mit dem wiederbelebten Wollmarkt gefeiert wird. Wollmarkt und Eisenbahn sind übrigens enger miteinander verbunden, als man denken würde: Der Schienenweg hat dem Wollmarkt ab 1864 einen ungeahnten Aufschwung verliehen, konnten Käufer und Verkäufer doch von da an viel leichter und bequemer mit ihrer Ware nach Kirchheim gelangen beziehungsweise wieder den Heimweg antreten.

Nicht zuletzt wirkte sich die Eisenbahn auch ausgesprochen positiv auf die hiesige Textilindustrie aus: Dabei ging es nicht nur um den Einkauf der benötigten Rohstoffe oder um den Absatz der eigenen Erzeugnisse. Auch Arbeitskräfte waren durch die Eisenbahn flexibler geworden, und die Energie ist ebenfalls nicht zu vergessen: Wagenladungen von Kohle wurden benötigt, um die Maschinen in den Fabriken anzutreiben.

Eine enge Zusammenwirkung gibt es übrigens auch zwischen Theater und Sprayern beim Güterschuppen, der natürlich nicht aus den Anfangsjahren der Eisenbahn in Kirchheim stammt. Schließlich war der Bahnhof ja erst 1975 von seinem Standort am Postplatz an die heutige Stelle verlegt worden. Nun erfährt der Güterschuppen, der in den vergangenen Jahren eher ungenutzt und unbeachtet von der alten Herrlichkeit der Güterbeförderung per Schiene träumte, eine gewaltige optische Aufwertung: Eine Gruppe von 15 bis 20 Graffitisprayern aus Kirchheim darf sich an der Außenwand der Halle austoben.

Ursprünglich hatten sich die Sprayer an die Oberbürgermeisterin gewandt, um überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, ihr Hobby legal in Kirchheim ausüben zu können. Marius Butz, einer der beiden gestrigen Sprecher der Sprayer, sagte dazu: „Wir wollen sprühen, ohne uns strafbar zu machen oder das Eigentum anderer zu beschädigen. Wir wollen auch zeigen, dass Graffiti mehr ist als Sachbeschädigung. Da steckt eine Kunst dahinter.“ Daniel Geiger ergänzt zum konkreten Projekt, dass jetzt noch zwei bis drei Wochen an den Einzelskizzen gearbeitet werde – in Absprache mit den Theaterleuten. Danach kann die Halle äußerlich bereits zu neuem Leben erwachen.