Kirchheim. Begonnen hatte alles mit einer Anfrage – lange bevor an den Mauerfall zu denken war: Der Lehrer Götz Eberbach erkundigte sich beim Oberschulamt nach Möglichkeiten für eine Schulpartnerschaft mit einer Schule in der DDR. Diese Anfrage blieb zunächst so frucht- wie folgenlos, denn eine solche Partnerschaft sei „von drüben“ abgelehnt worden, wie sich Roland Krämer erinnert.
Überhaupt sei die direkte Kontaktaufnahme mit Schulen damals sehr schwierig gewesen. Auch als Fachleiter war Roland Krämer schon mit Referendaren nach Ost-Berlin und an andere Orte in der DDR gereist. „Man hat uns ausführlich über das Schulsystem informiert, aber wir sind nie in ein Klassenzimmer gekommen.“
Das sollte sich erst nach der Wende ändern. Zunächst einmal wurde immer noch der Dienstweg eingeschlagen, dieses Mal aber in der anderen Richtung: Als Schulleiterin der Erweiterten Oberschule Burgstädt wandte sich Brunhild Kurth 1990 an das Oberschulamt in Stuttgart und fragte ihrerseits nach Möglichkeiten einer Schulpartnerschaft. Die Anfrage in Stuttgart war naheliegend, weil ohnehin eine Verwaltungskooperation zwischen Sachsen und Baden-Württemberg vereinbart worden war.
Im Oberschulamt erinnerte man sich an das frühere Ansinnen aus dem Schlossgymnasium, und so landete der Brief aus Burgstädt in Kirchheim. Im Kollegium wurde intensiv diskutiert, berichtet Roland Krämer über 20 Jahre später. Die Anfrage aus Sachsen sei als „Hilferuf“ verstanden worden, und deshalb bot das Schlossgymnasium auch seine Hilfe an.
Aus heutiger Sicht ist es kaum vorstellbar, wie es damals zuging, als die DDR noch vor der Wiedervereinigung damit begann, westliche Strukturen zu übernehmen. „Die waren von der politischen Wende überrascht und wohl auch überfordert“, sagt Roland Krämer, freilich ohne in den arroganten Tonfall des „Besser-Wessis“ zu verfallen. Im Gegenteil, bis heute bleibt ihm von damals her das „schlechte Gefühl, dass das baden-württembergische Schulsystem 1:1 nach Sachsen exportiert wurde“. So schlecht sei das alte polytechnische System in Sachsen nämlich gar nicht gewesen. Es hätte deshalb wohl auch nicht komplett über den Haufen geworfen werden müssen.
Andererseits stellten Roland Krämer und seine Kollegen damals auch große Unterschiede fest und konstatierten entsprechenden Nachhilfebedarf: „Es war völlig neu, die Schüler zur Eigenständigkeit zu erziehen, zum selbstständigen Denken oder gar zur Kritikfähigkeit. Es war auch neu, dass man selbst im Kollegium nicht immer einer Meinung sein muss und dass man auch dem Schulleiter widersprechen kann.“
Besuche und Gegenbesuche wechselten sich von 1990 an in rascher Folge ab. Besonders wichtig war aber das Telefon. „Wir haben zum Teil täglich telefoniert, und das zum Teil auch sehr lang“, erzählt Roland Krämer. Er hatte damals in der Erweiterten Oberschule Burgstädt beinahe den Ruf eines Hellsehers, weil er bereits vorhersagen konnte, welcher Erlass als Nächstes folgen werde. Dabei war das aus seiner Sicht kein großes Kunststück. Schließlich kannte er das baden-württembergische Schulsystem zur Genüge, um den direkten Transfer nach Sachsen zu durchschauen. Wenn Brunhild Kurth von einem neuen Erlass berichtete, dann fragte er nur nach dem Namen und dem ersten Satz, und schon wusste er Bescheid: „Es war wieder mal ein Erlass, der direkt übernommen wurde.“
Eine besondere Aufbauhilfe leistete das Schlossgymnasium auch, um die Erweiterte Oberschule zum Gymnasium Burgstädt umzuwandeln. Ein Meilenstein auf dem Weg zum Gymnasium war eine Podiumsdiskussion 1991 in einem ebenso baufälligen wie überfüllten Gebäude in Burgstädt. Auf dem Podium saß neben dem Schulleiter aus Kirchheim auch Barbara Leuze, die damalige Elternbeiratsvorsitzende des Schlossgymnasiums. „Auch diese Diskussion war neu und ungewöhnlich für die Lehrer in Burgstädt“, sagt Roland Krämer. „Dass man politischen Entscheidungsträgern Fragen stellen kann, das kannten sie nicht.“
Inzwischen hat sich sehr viel getan. Die Unterschiede sowohl im Schul- als auch im Gesellschaftssystem sind geringer geworden. Ratschläge aus Baden-Württemberg brauchen die Sachsen heute so wenig wie alte Computer oder ausgediente Schulbücher. Vor 20 Jahren waren die Burgstädter noch sehr dankbar, für ihre Erweiterte Oberschule beziehungsweise für das Gymnasium, das im August 1992 feierlich gegründet wurde, Rechner und Bücher aus Kirchheim zu erhalten. Aber „die Selbstsicherheit der Lehrerschaft wuchs sehr rasch“, stellt Roland Krämer auch im Rückblick immer noch erfreut fest und fügt hinzu: „Die katalytische Wirkung von Hilfe ist längst nicht mehr nötig.“
Das sächsische Schulsystem habe sich längst eigenständig entwickelt und zähle zusammen mit dem bayerischen und dem baden-württembergischen zu den erfolgreichsten im PISA-Vergleich. Und Roland Krämer setzt sogar noch einen drauf: „Der Gedanke ist nicht abwegig, dass Sachsen in der Bildungspolitik sein Geburtshelferland Baden-Württemberg sogar schon überholt hat.“
Wer jetzt die sächsische Schulpolitik an vorderster Stelle mitgestaltet, das ist die damalige Burgstädter Schulleiterin Brunhild Kurth. 2003 stattete sie Kirchheim den bislang letzten offiziellen Besuch ab, als das Schlossgymnasium „25 Jahre Neubau in der Jesinger Halde“ feierte. Zu diesem Zeitpunkt war sie bereits Referatsleiterin im Kultusministerium.
Einen richtigen Austausch zwischen beiden Schulen gibt es schon seit vielen Jahren nicht mehr. Er ist auch nicht mehr nötig. Freundschaften sind aber geblieben, vor allem innerhalb der Kollegien. Und auch die einstigen Schulleiter und deren Familien verbindet nach wie vor eine herzliche Freundschaft. Deshalb spricht Roland Krämer von der sächsischen Kultusministerin auch mit der größten Hochachtung: „Sie war eine gute Lehrerin, hat als Schulleiterin ein Gymnasium zur Blüte geführt und somit Schule von der Pike auf erlebt und gestaltet. Sie war danach mit großem Erfolg in der Schulaufsicht und im Kultusministerium tätig. Und wenn eine solche Frau – auch noch ohne Bindung an eine politische Partei – an die Spitze des Kultusministeriums berufen wird, dann ist das zwar nicht der Normalfall, aber in diesem Fall sicherlich ein Glücksfall.“