Fritz Heinzelmann referierte für den Verschönerungsverein Kirchheim über den Stadtpfarrer Otto Mörike und sein „Nein“ zu Hitler
Der „Fall Otto Mörike“: Täter- und Opferrolle vertauscht

Viele Persönlichkeiten werden in Kirchheim geehrt - mit Gedenktafeln, Straßen, Schulen. Warum erinnert aber so gut wie nichts an Pfarrer Otto Mörike? Diese Frage war der Anstoß zu einem Vortrag, den Fritz Heinzelmann im Namen des Verschönerungsvereins Kirchheim hielt.

Kirchheim. In Anwesenheit einer Tochter und einer Nichte Otto Möri­kes führte der Referent zunächst aus, dass der einstige Stadtpfarrer schon frühzeitig den verbrecherischen Charakter des Hitlerstaates erkannt habe und auch schon vor 1938 aktiv und wortstark gegen Gewalt und Lügen angetreten sei. Zum offenen Konflikt kam es 1938, als anlässlich des für den 10. April angesetzten Volksentscheids die Bürger darüber abzustimmen hatten, ob sie erstens der am 13. März 1938 vollzogenen Vereinigung mit Österreich zustimmen, und ob sie zweitens für die Liste von Adolf Hitler stimmen.

Bei der ersten Frage antwortete Mörike mit „Ja“, bei der Zweiten mit „Nein“. Seine Frau Gertrud Mörike hatte beide Abstimmungspunkte mit „Nein“ beantwortet. In einer dem Wahlumschlag beigelegten Denkschrift begründete Otto Mörike ausführlich seine Wahlentscheidung. Da sogar Landesbischof Theophil Wurm, 1934 selbst ein Opfer von Schutzhaft, im Vorfeld des Volksentscheids die Christen Württembergs dazu aufgerufen hatte, beide Fragen mit „Ja“ zu beantworten, um die Reibungsflächen zwischen Kirche und System zu vermindern, konnte man angesichts der von allen begrüßten Vereinigung leicht mit einer hundertprozentigen Zustimmung in der Bevölkerung rechnen. Bei der Auszählung der Kirchheimer Stimmen im „Goldenen Adler“ fielen deshalb die zwei Nein-Stimmen beträchtlich auf.

Die dem Wahlumschlag beigelegte Denkschrift ließ den Verdacht ziemlich schnell auf die Mörikes fallen. Unter Verletzung des Wahlgeheimnisses veranlasste man noch in derselben Nacht eine polizeiliche Vernehmung im Pfarrhaus. Mörike beantwortete die Frage nach seiner Urheberschaft vorbehaltlos mit „Ja“. Es folgten die in einem Aufsatz von Pfarrer Wilhelm Kern 1986 ausführlich beschriebene Misshandlung Mörikes durch einen aufgestachelten Kirchheimer Mob und eine „Schutzhaft“ im Gefängnis.

Diese Exzesse um Mörike und die Verarbeitung der pogromartigen Ereignisse in Kirchheim bildeten das zentrale Thema des Vortrags von Fritz Heinzelmann. Ein bisher nicht veröffentlichter Brief einer Pfarrfrau aus einer Kirchheimer Außengemeinde schildert, wie diese Vorgänge in der Bevölkerung unter dem Einfluss der damaligen Propaganda gesehen wurden: Täter- und Opferrolle wurden vertauscht, Mörike habe provozieren wollen, hätte sich in der Rolle eines Märtyrers gefallen, und dabei das Jesuswort „Seid untertan der Obrigkeit“ frech missachtet. Die Wut der Kirchheimer Bürger auf Mörike sei verständlich und entschuldbar.

Die aus diesem Brief sprechende Sicht der Ereignisse sei, so der Referent, leider noch lange nach dem Untergang des „Dritten Reichs“ in Kirchheim zu hören gewesen. Selbst 72 Jahre nach dem Volksentscheid hörte Fritz Heinzelmann einen gebürtigen Kirchheimer sagen, Otto Mörike habe eben als kompromissloser „Fundamentalist“ wegen seiner unbegreiflichen Sturheit anecken müssen. Und mit diesem Urteil konnte man sich sogar auf Mörikes kirchlichen Vorgesetzten, Landesbischof Wurm, berufen, der am 24. Mai 1938 die hiesige Martinskirchengemeinde aufgefordert hatte, sie möge auf Mörike einwirken, dass er sich „der Mäßigung befleißige“. Dieser kirchenamtlichen Stellungnahme war eine Initiative aus der Gemeinde zugunsten Otto Mö­rikes vorausgegangen: Mörike habe mit seiner Wahlerklärung das ausgesprochen, was viele, die am 10. April ihre Ja-Stimme mit verletztem Gewissen abgegeben haben, dachten. Den belasteten Gewissen sei das „Nein“ Mörikes eine Befreiung gewesen.

Hinter diesen Wortgefechten zwischen Oberkirchenrat und evangelischen Gemeindemitgliedern aus Kirchheim verbirgt sich nach Ansicht von Fritz Heinzelmann der Streit zwischen zwei grundsätzlich verschiedenen Moralvorstellungen, die der Soziologe Max Weber mit Verantwortungsethik und Gesinnungsethik umschreibt. Ein Verantwortungsethiker wie Landesbischof Wurm ordnet sein Tun den hypothetischen, also den von ihm vermuteten Vor- und Nachteilen seiner Handlungen unter. Deshalb darf ein Verantwortungsethiker auch zu Notlügen greifen, wenn es seine Sache rechtfertigt.

Dagegen berücksichtigt ein Gesinnungsethiker wie Otto Mörike nicht die zu erwartenden positiven und negativen Folgen seiner Handlungen, sondern er orientiert sich bei seinem Tun ausschließlich an absoluten, nicht kompromissfähigen Wertmaßstäben. Nach Kants kategorischem Imperativ ist deshalb die den Verantwortungsethikern gestattete Notlüge als unmoralisch abzulehnen, weil sich auf Lügen dauerhaft kein Gemeinwesen aufbauen lässt. Das Gleiche lehren die Evangelien: „Wer mich verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen, spricht der Herr!“ Deshalb stellt für einen bekennenden Christen die von Landesbischof Wurm diplomatisch geforderte Zustimmung zu Hitler und seiner Ideologie eine sündhafte Verleugnung der Lehre Jesu dar.

Fritz Heinzelmann warf gegen Ende seines Vortrags die Frage auf, ob man das „Dritte Reich“ und seine Verbrechen nicht hätte aufhalten können, wenn es damals mehr Gesinnungs- und weniger Verantwortungsethiker gegeben hätte? Pfarrer Nie­möller erklärte nach dem Zweiten Weltkrieg die großen Kirchen wegen ihres Schweigens zu Mitschuldigen am Aufkommen und an den Verbrechen des Nationalsozialismus. Von diesem Vorwurf kann man das Pfarrersehepaar Mörike freisprechen.

Auch nach der Vertreibung aus Kirchheim blieben sie sich und ihren christlichen Wertvorstellungen treu: Im Dekanat Leonberg organisierten sie die sogenannte „Württembergische Pfarrhauskette“ zur Rettung von Juden und unterstützten inhaftierte Pfarrer und ihre Familien. In Israel wurden die Mörikes deshalb mit der Ehrenmedaille von Yad Vashem und durch einen Baum in der „Allee der Gerechten“ geehrt. In Kirchheim dagegen dauert es bis zum Jahr 2011, bis man eine schlichte Texttafel für das außergewöhnliche Lebenswerk von Gertrud und Otto Mörike an der Außenfassade des ehemaligen Pfarrhauses, Widerholtplatz 5, anbringen kann.

Im Anschluss an den Vortrag von Fritz Heinzelmann entwickelte sich eine emotionale Gesprächsrunde, in der die Anwesenden versuchten, eine Antwort auf die Frage zu finden, warum der „Fall Otto Mörike“ jahrelang in Kirchheim verdrängt und nur wenig aufgearbeitet wurde. Besonders eindrucksvoll war in diesem Zusammenhang der persönliche Bericht von Dora Metzger, der Tochter von Otto Mörike, die als Zwölfjährige mit den Folgen der Misshandlungen und der anschließenden Haft ihres Vaters leben musste.bg