Kirchheim. „Wilhelm Tell“ ist Schillers populärstes Drama. Obwohl er nie in der Schweiz war, hat er den Schweizern eine Gründungslegende gegeben: Die freie Schweiz ist entstanden durch einen solidarischen
Ulrich Staehle
Kampf der Kantone gegen Fremdherrschaft. Und ein Wilhelm Tell hat dem Freiheitskampf durch die Ermordung eines besonders grausamen Unterdrückers den entscheidenden Schub gegeben.
Auch für das deutsche Publikum ist der „Tell“ ein volksnahes Stück. Es ist gespickt mit Sprüchen wie „Der brave Mann denkt an sich selbst zuletzt“, „Der kluge Mann baut vor“ oder „Früh übt sich, was ein Meister werden will“. Diese Sentenzen sind so geläufig, dass man sich klar machen muss: Schiller hat nicht auf Volksweisheiten zurückgegriffen, sondern seine Sentenzen sind zu Volksweisheiten geworden.
Bei diesem Schillerstück liegen am Schluss auf der Bühne keine Leichen herum von Idealisten, die für das Freiheitsideal gestorben sind, sondern der Held darf überleben und sich feiern lassen. Diese positive Geschichtsutopie dürfte dazu beigetragen haben, dass das Freiheitsdrama immer wieder aufgeführt wird und zur Pflichtlektüre der Schule gehört.
Schillers „Tell“ ist populär, doch alles andere als einfach. Schließlich handelt es sich um ein Spätwerk. Es ist sein letztes vollendetes Bühnenwerk. Der erfahrene Dramatiker sah voraus, dass die Frage des Tyrannenmordes nicht einfach durch Jubel beantwortet werden kann und ließ am Schluss „Parricida“, den Mörder des Kaisers, auftreten und mit Tell diskutieren. Tell rechtfertigt seine Tat als notwendig und gerecht, Parricidas Verwandtenmord als ungerecht und moralisch verwerflich.
Die Komplexität des Themas und der verschiedenen Handlungsstränge hat sich auch in einer bewegten Wirkungsgeschichte niedergeschlagen. So wurde Friedrich Schiller von den Nazis als patriotischer Dichter hymnisch gefeiert, „Wilhelm Tell“ aber von Hitler 1941 per Erlass verboten.
Die Badische Landesbühne hat sich nun in die Aufführungstradition des „Tell“ eingereiht und war mit ihrer Produktion auf Einladung des Kulturrings in der Stadthalle zu Gast. Sie musste eine gewaltige Vorarbeit leisten, um eine zeitgemäße, den Möglichkeiten eines relativ kleinen Theaters und dem Fassungsvermögen des Publikums angemessene Version zu liefern. Außerdem sollte der „Tell“ sowohl als Freilicht-, als auch als Saalproduktion verwendbar sein. Das hieß: Konzentration und Verwendung einfacher Mittel.
Der Text ist auf eine Spieldauer von knapp zwei Stunden inklusive Pause zusammengestrichen. Es war klar, dass die Parricidaszenen wegfallen. Doch auch die Adelsgesellschaft und die Liebesgeschichten mussten dran glauben. Nicht überrascht hat auch die Kürzung ausladender schillerscher Rhetorik. Auf der Bühne kommen nur zehn Darsteller zum Einsatz. Das heißt, sie müssen in Mehrfachrollen auftreten. Die Badische Landesbühne hat dieses „Gebirge“ an Schwierigkeiten offensichtlich erfolgreich überstiegen. Das beweist schon der herzhafte Schlussbeifall des Kirchheimer Publikums.
Das Problem Massenszenen ohne Masse wurde von der Regie durch Chorsprechen gelöst. Wie in der Rütliszene spielen sich Massenbewegungen vor allem sprachlich ab. Das heikle Synchronsprechen wird professionell gemeistert. Bei Rollenwechseln ist Verwandlungsfähigkeit gefordert und vorhanden. Die gleichen Schauspieler spielen positive Helden wie Schurken, zum Beispiel spielt Walter Fürst den Fronvogt, einen Pfarrer und einen miesen Söldner. Nur der Darsteller des Werner Stauffacher (Stefan Holm) bleibt Werner Stauffacher. Er ist die Säule des Widerstandes und nicht nur wegen seiner Körpergröße, sondern wegen seiner Selbstsicherheit der ruhende Pol auf der Bühne. Und natürlich muss der Darsteller des Tell nicht in andere Rollen schlüpfen. Philipp Dürschmied ist mit seinem Lockenkopf ein sympathischer Tell, artikuliert aber vor lauter Gestaltungswillen seinen übriggebliebenen Text zu verwischt. Doch schließlich ist er ein Mann der Tat.
Hilfreich bei der Lösung der Bühnenprobleme ist das einfache, aber multifunktionale Bühnenbild mit der Gebirgssilhouette, das nur wenige Umbauten im Vordergrund nötig macht. Dass die Inszenierung nicht in Gebirgsfolklore versinkt, dafür sorgen zeitgenössische und humoristische Einsprengsel, nicht immer zwingend, aber erfrischend. Gessler erscheint in Anzug und Krawatte, als Waffe kommt keine Armbrust zum Einsatz, sondern Maschinenpistolen, Pistolen und ein Gewehr. Zur Verhinderung einer dramatischen Verkrampfung wird ab und zu nahegelegt, alles nicht zu ernst zu nehmen wie die slapstikhafte Szene in der Familienszene im Hause Tell.
Ende gut, alles gut? Sicherlich nicht. Das Problem des Tyrannenmordes ist angesichts der heutigen Freiheitsbewegungen aktueller denn je. Schillers „Tell“ kann noch lange nicht zu den Akten gelegt werden.