Kirchheim. Literaturgeschichte ist oft ungerecht. Da poetisiert jemand seine schwäbische Heimat in Romanen, Novellen und Gedichten, gibt
Zeitgenossen und Nachfolgern Anstöße, ist in schwieriger Zeit ein aufrechter Republikaner, was ihm monatelange Festungshaft einbringt – und kaum jemand kennt oder liest ihn heute.
An Gedenktagen ist Gelegenheit, auf diese Ungerechtigkeit hinzuweisen, so geschieht es bei Hermann Kurz, dessen 200. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. Der Geburtsort ist Reutlingen. Deshalb legen sich die Reutlinger ins Zeug, um den Sohn ihrer Stadt der Vergessenheit zu entreißen. Unter anderem haben sie eine Wanderausstellung mit dem Titel „Das blaue Genie“ eingerichtet, die jetzt auf der ersten Station ihrer Wanderschaft in Kirchheim zu sehen ist, im Untergeschoss des Kornhauses. In Kirchheim macht die Ausstellung bis 30. Juni auf Initiative des Literaturbeirats Station, da der Jubilar, wenn auch nur kurz, in Kirchheim gelebt hat, sein Andenken im Literaturmuseum gepflegt wird und der Kirchheimer Verleger Jürgen Schweier sich in außergewöhnlicher Weise um Hermann Kurz verdient gemacht hat.
Dies erfuhren die Zuhörer im gut gefüllten „Schulraum“ des Max-Eyth-Hauses bei der Ausstellungseröffnung am vergangenen Donnerstag von Rainer Laskowski, dem scheidenden Museumsdirektor. „In diesem Raum der Lateinschule wurden die Kinder von Hermann Kurz unterrichtet, das heißt, seine vier Söhne. Die Tochter bekam Privatunterricht“.
Nachdem Laskowski auf Karl-Georg Sindeles Spuren den Bezug dieses Autors zu Kirchheim hergestellt hatte, gab Dr. Werner Ströbele vom Kulturamt Reutlingen Auskunft über das Leben und Wirken des Dichters allgemein. „Der am 30. November 1813 in Reutlingen Geborene zählt nicht nur als Dichter und Romantiker, sondern auch als Übersetzer, Herausgeber und politischer Redakteur sowie als Publizist zu den interessantesten Schriftstellerpersönlichkeiten des 19. Jahrhunderts. Mit Georg Büchner, Friedrich Hebbel und Richard Wagner gehört er zum ,Rebellenjahrgang‘ 1813, der eine neue Epoche in Literatur und Musik begründet. Obgleich er sich zeitlebens fast ausschließlich nur in seiner württembergischen Heimat bewegte, ist sein Werk das eines schwäbischen Weltbürgers“.
„Das blaue Genie“, dieser Spitzname stammt aus der Studentenzeit, in der Student einen Mantel mit einer ungewöhnlichen, „romantisierenden“ Farbe trug. Hermann Kurz war nicht Poet um der Poesie Willen, sondern verstand sich als „geistiger Erzieher seiner Zeit“. Für sein Engagement während der 1848er-Revolution musste er einige Monate auf dem Hohenasperg büßen. Peter Härtling, der Hermann Kurz unter die großen Realisten des 19. Jahrhunderts zählt, konstatiert, dass bis heute uns diese freiheitliche Gesinnung „immer noch nicht passt“.
Die Zuhörer hatten nun die Gelegenheit, unter der Führung des Kurators Andreas Vogt vom Kulturamt Reutlingen die Ausstellung kennenzulernen. Sie besteht aus fünf Stellwänden, einer Hör- und einer Videostation. Die Stellwände simulieren aufgeklappte Bücher, die die Lebensabschnitte des Jubilars dokumentieren: „Reutlingen 1813–1827“ mit der frühkindlichen Prägung. „Schüler, Stiftler, Vikar 1827–35“: die vielseitige und vielsprachige Ausbildung im Maulbronner Seminar und im Tübinger Stift endete nicht wie üblich im Pfarrberuf, sondern in der wagemutigen Existenz als freier Schriftsteller (1836–44). Dem „Sog der Revolution 1844–54“ folgt die „Restauration und Resignation 1855–73“.
Die kleine, aber feine Ausstellung präsentiert sich sehr übersichtlich gegliedert. Auf den „Buchseiten“ führt ein Leittext ein, eine Zeitleiste informiert über die biografischen Daten, parallel dazu die zeitgeschichtliche, die einen Einfluss auf die Biografie ausgeübt haben. Auf der rechten Seite gibt es Bilder und Zitate, in Blau von Hermann Kurz, in Rot von Marie Kurz, der Ehefrau und fünffachen Mutter. Von adliger Herkunft war sie erstaunlicherweise von noch revolutionärerem Geist beseelt als ihr Gatte. Wenn die Kirchheimer nach Zeugnissen speziell der Kirchheimer Zeit suchen – die Familie wohnte von August 1862 bis November 1863 in der Max-Eyth-Straße 50 und der Dettinger Straße 66 – so stoßen sie auf eine Tagebuchnotiz der Ehefrau, die ihnen sauer aufstößt: „Die Umgebungen sind wunderschön, das Städtchen selbst ein elendes Nest“.
Um das Gegenteil zu beweisen, sollten sich die Kirchheimer nicht abhalten lassen, die Ausstellung zu besuchen. Wer Geschmack gefunden hat, kann am Sonntag, 9. Juni um 11 Uhr an einer Matinee mit Andreas Vogt teilnehmen oder am Sonntag, 30. Juni an einer kleinen literarischen Wanderung von Ochsenwang zum Reußenstein. Hermann Kurz selbst hatte die Hoffnung: „Und haben sie mich eingescharrt/Dann, treues Wort, in dir sei meine Gegenwart“. Seine Nachwirkung vollzieht sich aber nicht nur in der Sprache, sondern auch in seinen Kindern, die ein Leben als europäische Bürger geführt haben: am prägnantesten die Tochter Isolde, die als Schriftstellerin bekannter wurde als ihr Vater.