Was der Teckbote vor hundert Jahren – im Sommer 1914 – über die Entstehung des Ersten Weltkriegs „live“ erzählen konnte
Der Krieg, der allen „aufgedrungen“ wurde, ist plötzlich da

Heute vor hundert Jahren, am Dienstag, 4. August 1914, war der Erste Weltkrieg in vollem Gange: Auch wenn die deutsche Mobilmachung erst zwei Tage zuvor begonnen hatte, so waren doch alle


Andreas Volz

entscheidenden Kriegserklärungen übermittelt. Seit dem Attentat von Sarajevo waren gerade fünf Wochen vergangen. Die Diplomatie hatte also – je nach Perspektive – komplett versagt oder auch ganze Arbeit geleistet.

Es gab auf allen Seiten und in allen Staaten, die von Anfang an aktiv an diesem Krieg mitwirkten, Warnrufe von weitblickenderen Menschen, aber auch große Begeisterung für den kommenden Krieg. Nicht nur viele Militärangehörige hatten sich gewünscht, dass endlich ein Krieg ausbrechen möge, in dem sie sich bewähren könnten. Auch große Teile der europäischen Diplomatie arbei­teten eher daran, einen Krieg zu ermöglichen als ihn zu verhindern.

Einen bedeutenden Anteil am Kriegsausbruch hatte mit Sicherheit das Deutsche Reich. Nicht zuletzt preschte es vor mit seinen Kriegserklärungen und mit der Verletzung der belgischen wie der luxemburgischen Neutralität. Aber alle Mächte hätten ihre Möglichkeiten gehabt, den Grundkonflikt auch ohne Gewalt zu lösen. Keiner hatte allerdings wirklich Interesse daran.

Die Kriegsschuldfrage ist im Versailler Vertrag fünf Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs offiziell eindeutig geklärt worden. Demnach handelte es sich um einen Krieg, der den Alliierten „durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungen wurde“.

Dass sich die Deutschen in der Weimarer Republik nicht mit einer solch einseitigen Schuldzuweisung abfinden konnten, erklärt sich durch einen Blick in den Teckboten-Band des Jahres 1914. Schon in ihrer Sonderausgabe vom Sonntag (!), 2. August 1914, wiederholt die Kirchheimer Zeitung, dass aus damaliger deutscher Sicht einzig und allein Russland der Aggressor ist. Zur Sonderausgabe kam es wegen der Mobilmachung, die tags zuvor erfolgt war und die den ersten Mobilmachungstag auf eben jenen Sonntag festsetzte.

Zunächst gibt sich die Zeitung noch friedliebend. Aber die Schuldzuweisung ist eindeutig, und es kommt bereits eine martialische Ankündigung: „Die leise Hoffnung, daß die Mobilmachung noch nicht den Krieg bedeute, besteht noch. Wer sich der ungeheuren Bedeutung eines heutigen Weltkriegs bewußt ist, muß an dieser Hoffnung festhalten, bis sie ganz vernichtet ist, vernichtet von den Kriegshetzern in Rußland. Dann aber folgt die Abrechnung, sie sollen es büßen, diese Kumpane von Verschwörern und Mördern!“

Frankreich wird gleich dieselbe mögliche Schuld unterstellt: „Wenn Frankreich [...] keine gemeinsame Sache mit den russischen Kriegshetzern machen will, so wird es sich außerordentliche Verdienste um den Frieden der Welt, um die ganze Kultur erwerben.“ Der Teckbote schreibt bereits von der Hoffnung, „daß für alle Zukunft zwischen den beiden Kulturstaaten Deutschland und Frankreich ein besseres und freundschaftlicheres Verhältnis sich herausbilden könnte als bisher“. Dazu sollte es aber erst 50 Jahre später kommen, nach einem weiteren verheerenden Weltkrieg.

Von der „großen Politik“ gehen aber nicht nur jeweils eigene Auslegungen aus, sondern auch direkte Auswirkungen auf die „kleinen Menschen“. 1914 bedeutete dies für sämtliche wehrfähigen Kirch­heimer, dass sie ihrer „Kriegsbeorderung oder der vorstehenden Aufforderung“ Folge zu leisten hatten. Andernfalls hätte ihnen eine Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren gedroht.

Die Eisenbahn spielt in jener Sonntagsausgabe übrigens eine entscheidende Rolle. Einerseits hört sofort der „Friedensfahrplan“ auf, und die Einberufenen haben „freie Eisenbahnfahrt, um ihren Gestellungsort zu erreichen“. Andererseits hat sich der Gemeinderat soeben mit einem Projekt beschäftigt, das erst 1975 endgültig umgesetzt wurde: mit der „Verlegung des Bahnhofs Kirchheim an den Hang des Milchenbergs“. Durchgängig wird der „Milcherberg“ da noch als „Milchenberg“ bezeichnet.

Anordnungen, die aus heutiger Sicht sehr merkwürdig klingen, verkündet der Teckbote am Montag, 
3. August 1914: „Es ist verboten, Tauben zur Beförderung von Nachrichten ohne Genehmigung der Generalkommandos zu verwenden.“ Für die Tauben war es überlebenswichtig, dass sie „deutsche Militärbrieftauben“ waren. Denn nur diesen Tauben war „die Freiheit wiederzugeben“, nachdem „etwa anhängende Depeschen“ sorgfältig abgelöst waren. Für alle anderen Tauben erging die Anweisung, sie „vernichten zu lassen“.

Das mag kurios klingen. Aber die Angst vor Spionage hatte damals die gesamte Bevölkerung erfasst – angestachelt durch öffentliche Erlasse zur Wachsamkeit. Unzählig sind die Nachrichten von gefassten und getöteten Agenten und Brunnenvergiftern. Nahezu jeder, der ganz modern mit Auto unterwegs war, galt als verdächtig – und setzte sich damit der Gefahr aus, sofort erschossen zu werden. Auch sämtliche Flugzeuge waren verdächtig, bis es schließlich am 7. August hieß: „Zahlreiche deutsche Flieger, auch Luftschiffe, sind auf Uebungsflügen. [...] Es ist daher unter allen Umständen jedes Schießen auf Luftfahrzeuge zu unterlassen.“ Ähnlich tags darauf: „Die Heeresleitung weist nachdrücklich darauf hin, daß das ins Unsinnige ausgeartete Aufhalten der Kraftwagen auf den Landstraßen aufhören muß.“

Kriegshysterie herrscht also allenthalben. Die Schuldfrage wird im Teckboten von 1914 immer wieder – auch durch Geschichten von Grenzverletzungen – den Nachbarstaaten Frankreich und Russland zugewiesen. Ein Aufruf „An mein Volk!“ in der Ausgabe vom 4. August 1914 ist mit „Wilhelm“ unterschrieben. Man könnte den Text für die bekanntermaßen großspurigen und undiplomatischen Worte Kaiser Wilhelms II. halten. Allerdings stammen sie vom württembergischen König gleichen Namens: „Für die deutsche Nation gilt es, gegen die haßerfüllten Feinde des Vaterlands anzugehen und in den ihr aufgedrungenen Kampf um die höchsten Güter einzutreten. Begeistert folgen auch wir Württemberger dem Ruf des Kaisers.“

In derselben Ausgabe erscheinen die ersten von vielen Anzeigen, die zur „Kriegsbetstunde“ in die „Vorstadtkirche“ und in die „Hauptkirche“ einladen. Der hiesige Fabrikant Carl Faber teilt per Annonce seinen Arbeitern mit: „Da infolge der Mobilmachung für die nächste Zeit jeder private Güterverkehr unterbrochen ist [...], sehe ich mich gezwungen, das Geschäft bis auf weiteres ganz zu schließen.“ Er empfiehlt seinen Arbeitern, ihre Arbeitskraft für die bevorstehende Ernte zur Verfügung zu stellen. Auch sonst finden sich viele Aufrufe zur Erntehilfe – nachdem so viele Soldaten ein ganz anderes Feld aufsuchen müssen als ihr angestammtes landwirtschaftliches.

Hamsterkäufe und Preistreiberei bei Lebensmitteln sind ebenfalls Folgen der Mobilmachung, über die der Teckbote berichtet. Die Frauen wiederum werden aufgefordert, „denen, die hinausziehen, das Herz nicht noch schwerer [zu] machen“ und sich in ihren Briefen an die Front als echte „Heldenfrauen“ und „Heldenmütter“ zu erweisen. Nicht wirklich ermutigend dürften die Hinweise auf „Kriegswitwengeld“, „Kriegswaisengeld“ und „Kriegselterngeld“ auf die Teckbotenleserinnen am 6. August 1914 gewirkt haben.

Eine eigene Art von Mut beweist derweil Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, dessen Reichstagsrede der Teckbote am 5. August 1914 zitiert. Er gibt unumwunden zu: „Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt und vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Das widerspricht dem Völkerrecht.“ Aber natürlich sei die Heeresleitung zu diesem Rechtsbruch gezwungen worden, denn „Not kennt kein Gebot“. Und selbstverständlich werde das Unrecht wieder gut gemacht, „wenn unser Zweck erreicht ist“.

Bis dieser Zweck erreicht ist, dauert es noch lange, und eigentlich wird er ja nie erreicht. Die einzigen, die überhaupt irgendeinen Zweck erreicht haben, sind die Kriegstreiber: War Ende Juli in den Überschriften des Teckboten noch „Vom österreichisch-serbischen Krieg“ die Rede, heißt es Anfang August schon „Vom Kriegsschauplatz“, gefolgt von „Der Krieg“. Ab 11. August 1914 lautet die Rubrik endgültig: „Der Weltkrieg“.