Kirchheim. „Ziel meiner Arbeit im Kornhaus ist es, den Raum als Gesamtheit wie einen wissenschaftlichen Versuchsaufbau auf die Sibyllenspur zu beziehen und Bilder und
Objekte so zu setzen, dass der Betrachter in meine Welt eintauchen kann“, so Susann Dietrich. Bis zum 11. Januar kann der Besucher in der Ausstellung „Interferenzen“ in der Städtischen Galerie im Kornhaus diesen Versuchsaufbau für sich nachvollziehen.
Das Flimmern auf der Wasseroberfläche des Bosporus hat sie 2011 in Schwarz-Weiß von einem Wassertaxi aus gefilmt. Der Beamer, der die kristallinen Lichtreflexe zeigt, ist jedoch so aufgestellt, dass seine Projektion durch das Schaufenster nach außen auf die Arkaden des Kornhauses dringt und auf das Fachwerkhaus auf der anderen Straßenseite gestrahlt wird. Ein Teil des Bildes wird vom Schaufensterglas wieder in den Raum zurückreflektiert, sodass Innen und Außen gestalterisch verklammert werden. Im Eingang der Ausstellung wird die Reproduktion einer Buchseite im Glasrahmen präsentiert, auf der Leonardo da Vincis Fabel über den Schmetterling und das Licht zu lesen ist. Diese Thematik des Lichts und der Faltung zieht sich in vielfältigen Variationen durch die Werke von Susann Dietrich, die in erster Linie mit Fotografie arbeitet. Gefaltetes Fotopapier wird in Serien belichtet und wieder entfaltet. Dabei entstehen Kompositionen mit starken Diagonalen und unterschiedlichen Grautönen. Räumliche Verbindungen stellt die Künstlerin zu einer weiteren Gruppe von Papierarbeiten her, indem sie die visuelle Ähnlichkeit von Lackspuren, die mit einer Sprühdose auf die gefaltete Oberfläche aufgetragen wurden, als überraschende Bezüge zwischen fotografischen Verfahren und Graffiti-Technik nutzt.
Neben gerahmten Wandarbeiten und dem Beaming der reflektierenden Wasseroberfläche gibt es auch plastische Werke. Die Arbeit „Versuchsanordnung (Sibyllenspur)“ bildet aus schwarz lackierten Dachlatten eine Raumlineatur, die sich sperrig durch den hinteren Teil der Ausstellung zieht und zusammen mit einer Bodenplastik aus Spanplatten eine dreidimensionale Ergänzung ihrer Papierarbeiten darstellt.
Alle Werke beziehen sich direkt oder indirekt auf ein geologisches und ein volkskundliches Phänomen: Die „Sibyllenspur“. So werden mehrere parallele Linien bezeichnet, die sich quer durch die Felder zwischen Dettingen und Owen ziehen und auf eine antike Festungslinie des römischen Limes zurückzuführen sind. Der Volksmund hat dieses mit anderen Phänomenen zu einer regionalen Sage verbunden. „Eine Sibylle hauste in der Höhle in der Teck und hat den Menschen Gutes getan. Nur ihre drei Söhne haben alles mit ihrer Machtgier verdorben, sodass die Sibylle in einem feurigen Wagen davongeflogen ist“, so erläuterte Dr. Beatrice Büchsel die Volkssage in ihrer Einführung. Auf der Bedeutungsebene steckt also hinter der ästhetisch gelungenen Gestaltung der Ausstellung eine „Oral history“, ein soziologischer Begriff, der sich im Gegensatz zu historischen Ereignissen nur auf mündliche Überlieferung bezieht.
Daran macht Susann Dietrich den Ortsbezug ihrer Arbeit fest. Sie recherchierte seit Jahresbeginn im städtischen Archiv und stieß dabei auf Fotografien und historische Darstellungen, die auch als Vorlage für die fotografischen Reproduktionen in der Ausstellung auftauchen. Damit arbeitet sie ortsbezogen, aber nicht im Sinne einer strukturellen Analyse, sondern sie folgt der Geschichte um die Sibylle im Sinne einer Anekdote. Daraus ergeben sich aneinandergereihte einzelne Momente, die ästhetisch geschickt im Ausstellungsraum aufeinander bezogen werden, jedoch ohne die Struktur dahinter, beispielsweise das Prinzip des Archivs und sein Verhältnis zum Phänomen des Volksmundes, der Geschichten neben der wissenschaftlichen Historie weitergibt, aufzugreifen, um diese zu einer neuen künstlerischen Formensprache weiterzuentwickeln. Für den Betrachter sind Werke zu sehen, die von Phänomen zu Phänomen führen ohne diese mit sprachlichen Bedeutungszuweisungen zu überfrachten. Es bleibt damit jedem Besucher selbst überlassen, neue Sichtweisen auf Archiv, Saga und Historie zu finden.