Kirchheim. Eine silberne Anstecknadel in Form des Kirchheimer Rathauses – Pierre Jarawan scheint außer sich vor Freude zu sein über diese Ehrung. Andreas Kenner überreicht sie dem neuen Meister im deutschsprachigen Poetry Slam beim siebenjährigen Jubiläum in der Bastion. Die Bastion ist mächtig stolz auf Jarawan, der in den alten Gemäuern seine ersten literarischen Gehversuche wagte. Die Anstecknadel legte Jarawan dann jedoch schnell zur Seite, um zur Feier des Tages einen eigenen Text vorzutragen. Darin erinnert er sich an seine Ötlinger Kindergartentage zurück, die ihm „Little Joe“ täglich „mit ohne“ seine sprachlichen Fertigkeiten vermieste.
Sprache und Schreiben, das sind die beiden großen Talente Pierre Jarawans. „Mein Vater, der aus dem Libanon stammt, war ein leidenschaftlicher Geschichtenerzähler. Er konnte aber nie perfekt Deutsch und mochte einfach nur den Klang der Sprache, wenn ich ihm meine Gedichte vortrug. Ich glaube, darin liegt meine Faszination für Sprache begründet“, sagt der 27-Jährige. Seine nachdenklichen poetischen Texte kommen beim Publikum stets gut an, obwohl der Poetry Slam eher von kabarettistischen Texten dominiert wird. Pierre Jarawan weiß seine Andersartigkeit gut für sich auszunutzen. Er begeistert mit seinen oft autobiografischen, spielerisch wortgewandten Texten Zuhörer in ganz Deutschland. Nussschalenschiffskapitän, Seiltänzerträume, griesgramgrau – für solche ausgefallenen Wortkreationen steht Pierre Jarawan, der die klassischen Themen der Lyrik stets aus einem neuen, unbekannten Blickwinkel betrachtet.
Dass Sprache auch riesige Hallen füllen kann, das durfte er im November 2012 bei den deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam in Mannheim und Heidelberg erfahren. „Das ist schon beeindruckend, wenn man sich überlegt, dass letztes Jahr beim Finale 4 000 Leute in der O2-Arena in Hamburg waren, dieses Jahr 1 500, und es gibt noch Tausende, die sich die Übertragung im Internet anschauen.“
Trotz dieser Zahlen hat der junge Poet das Gefühl, dass Poetry Slam in der Öffentlichkeit etwas stiefmütterlich behandelt wird. Mit dem Dichterwettstreit, in dem mehrere Poeten kurze Geschichten oder Gedichte vortragen und dann vom Publikum ein Sieger gekürt wird, können die meisten noch nicht viel anfangen. „Viele Medien trauen sich nicht, einmal einen ernsthaften Beitrag über Poetry Slam zu machen. Da muss immer erwähnt werden, dass junge Leute da eben ihre Texte vortragen – nicht so ernst zu nehmend. Jetzt im Finale waren aber ein Drittel der Teilnehmer über 40 – das stand nirgendwo.“ Poetry Slam bewegt sich irgendwo zwischen Kabarett und klassischer Lyrik – das vielfältige Format lässt sich nicht leicht auf einen Punkt bringen. Doch Pierre Jarawan ist davon überzeugt, dass der Poetry Slam seinen Siegeszug durch Deutschland weiter fortsetzen wird.
Diese These wird bestätigt durch den Kirchheimer Slam. Seit seiner Gründung im Dezember 2005 ist die Veranstaltung im Club Bastion durchgehend ausverkauft, dieses Jahr wurde sogar erstmals eine Liveschaltung in die Wunderbar eingerichtet. Seit Pierre Jarawan vor zwei Jahren die Organisation von Ömer Savas übernommen hat und nun Poeten und Profis aus ganz Deutschland einlädt, ist Kirchheim auf der Landkarte des Poetry Slams ein fester Punkt geworden. „Der Kirchheimer Poetry Slam steht für ein sehr hohes Niveau. Das liegt aber nicht nur an den Poeten, die ich einlade, sondern auch an den lokalen Teilnehmern, die immer besser werden. Kirchheim profitiert davon, dass wir jetzt den Luxus der Crème de la Crème der Szene bei uns haben.“
Heute muss Jarawan seine Berliner Kollegen nicht mehr überreden, nach Kirchheim zu kommen – die euphorische, aber auch familiäre Atmosphäre in der Bastion hat sich herumgesprochen. Auch Natalie Kaindl, die zum ersten Mal den Slam in der Bastion erlebte, ist von der Stimmung begeistert: „Da steckt so viel Power dahinter!“ Alexander Brox, regelmäßiger Besucher der Bastion, sieht wie Jarawan im Poetry Slam eine große Bereicherung für die Stadt: „Die Mischung von überregionalen und regionalen Künstlern macht den Abend sehr spannend, und das hohe Niveau ist wirklich bemerkenswert.“
Nach sieben Jahren Poetry Slam in Kirchheim lohnt es sich auch einmal, auf die Entstehungsgeschichte zurückzublicken. Inspiriert von seinem Studienort Tübingen war Ömer Savas der Meinung, dass auch Kirchheim einen Poetry Slam braucht. Kurzerhand stellte er im Dezember 2005 die erste Veranstaltung auf die Beine. „Eine lustige Anekdote ist, dass Pierre tatsächlich der Allererste war, der sich bei mir beworben hat“, erinnert sich Savas. Zu Beginn fand der Kirchheimer Slam jährlich ausschließlich mit lokalen Poeten statt, und die Regeln waren noch etwas strenger. Nur Lyrik, mehr Runden, Abstimmung per Handzettel – die ersten Slams dauerten teilweise bis 1 Uhr morgens. An diese Pionierzeit erinnern sich Jarawan und Savas gerne zurück: „Wir waren damals eine tolle Truppe!“ Sein allererster Auftritt ist dem Slam-Profi Jarawan im Gedächtnis geblieben: „Meine Freunde haben mich überredet, aber ich war damals so aufgeregt, dass ich mich auf einen Barhocker setzen musste. Ich weiß aber auch noch, dass das Publikum ganz ruhig und total aufmerksam war. Der Auftritt hat mir sehr viel Spaß gemacht.“
Seit sich Pierre Jarawan vor drei Jahren dazu entschloss, dem Kirchheimer Poetry Slam untreu zu werden und deutschlandweit aufzutreten, hat sich viel bewegt. Der Höhepunkt war schließlich die Eroberung des Titels „Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam 2012“. Mit dem Sieg hat Jarawan überhaupt nicht gerechnet. „Seitdem bekomme ich viel mehr Anfragen, auch von Literaturfestivals und Buchmessen. Der Maßstab hat sich geändert.“ Im Juni fährt Pierre Jarawan sogar nach Paris, um an den Weltmeisterschaften des Poetry Slams teilzunehmen. Mittlerweile kann er gut von seinen Auftritten leben, selbst in München, wo der Ötlinger seit eineinhalb Jahren als Wahlheimat lebt. Daneben hat er noch seine eigene Lese- und Spielshow „Stadt, Land, Fluss“ im Münchner Ampere und absolviert Soloprogramme, Slam-Auftritte und Workshops im ganzen deutschsprachigen Raum. Nebenher studiert er an der Münchner Hochschule für Fernsehen und Film „Theater-, Film- und Fernsehkritik“ mit dem Ziel, später einmal als Werbetexter zu arbeiten. Vom Poetry Slam allein wolle er auf Dauer nicht abhängig sein. Sein großer Traum ist es aber, nach seinen zwei Büchern mit Kurzgeschichten einen ganzen Roman zu schreiben. Das ist zwar vorerst nur Zukunftsmusik, die Kirchheimer erwarten jedoch noch viel von „ihrem“ Pierre. Er wird als berühmter Literat eingehen in die Annalen der Stadtgeschichte, da ist sich das Kirchheimer Urgestein Andreas Kenner ganz sicher.