Junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr erleben die Welt aus der Perspektive von Rollstuhlfahrern
Der tiefer gelegte Alltag

Wie gestaltet sich der Alltag, wenn man ihn nicht auf zwei Beinen erlebt, sondern im Rollstuhl? Junge Absolventen des Freiwilligen Sozialen Jahres wissen das jetzt etwas genauer – sie haben es selbst ausprobiert.

Kirchheim. Jede Fahrt in die Stadt, jeder Einkauf, jeder Besuch in Cafés oder Restaurants wird zur Herausforderung, wenn man ihn nicht auf zwei gesunden Beinen macht, sondern zum Fortbewegen auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Im Supermarkt liegen genau die Waren, die man braucht, ein Regalbrett höher als man greifen kann, vor dem Lokal sind zwei Stufen zu überwinden, der Bordstein am Gehweg ist genau einen halben Zentimeter höher als man ohne fremde Hilfe schaffen würde, die Fahrt übers Kopfsteinpflaster beim Besuch auf dem Wochenmarkt geht gehörig ins Kreuz. Der Schreiber dieser Zeilen weiß genau, wovon er schreibt. Er ist selbst seit sieben Jahren im Rollstuhl.

Insgesamt 27 junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr sind zwar fähig zu gehen, können sich jetzt davon aber auch ein besseres Bild machen: Sie unternahmen, unterstützt und angeleitet von Veronika Thierfelder und Claudius Gerdeke vom Bund der Katholischen Jugend
(BDKJ), den Selbstversuch, liehen sich in Sanitätshäusern Rollstühle aus und waren damit selbst einen Tag in Kirchheim unterwegs. Eigentlich alltägliche Aufgaben mussten sie mit den Einschränkungen eines Rollstuhlfahrers bewältigen: Lebensmittel einkaufen, in einem Modehaus Kleidung anprobieren, auf die Bank gehen oder im Lokal einen Tisch finden, unter den man im Rollstuhl sitzend drunter kommt und der genügend Platz bietet, um sich im Sitzen drehen zu können. Und dabei am eigenen Leib erfahren, was es heißt, bei dem allen fast immer auf fremde Hilfe angewiesen zu sein, sich in engen Umkleidekabinen umzuziehen oder in schmale Toiletten hineinzukommen.

Bei einem Treffen in der Familienbildungsstätte (FBS) im Vogthaus fragten sie dann einen Betroffenen, wie er diesen tiefer gelegten Alltag erlebt und wie er mit manchen Schwierigkeiten zurechtkommt, die sich Fußgängern erst gar nicht stellen. Eine besondere Wertigkeit bekam die Veranstaltung dadurch, dass auch Roland Böhringer dabei war, der Leiter des Kirchheimer Amts für Familie und Soziales – und auch die Oberbürgermeisterin der Stadt, Angelika Matt-Heidecker, die mit Interesse zuhörte und nachfragte. Barrieren beseitigen, nicht nur auf dem Straßenpflaster, sondern auch in den Köpfen der Menschen: Dieses Ziel hat man sich nach den Worten von Angelika Matt-Heidecker und Roland Böhringer bei der Stadt vorgenommen.

„Was machen Sie, wenn Sie eine Hose einkaufen gehen wollen?“ Auf diese Frage aus der Runde der jungen Menschen gibt es von Seiten eines Rollstuhlfahrers eine einfache Antwort: Man kauft seine Hosen dort ein, wo es für die Verkäufer kein Problem darstellt, die Hosen mit nach Hause zu geben, wo man sie in aller Ruhe anprobieren kann. Geht das, kauft man dort gerne ein, geht das nicht, gibt man dort auch kein Geld aus. So wird die Frage, wie man Rollstuhlfahrer behandelt, zum Wirtschaftsfaktor für den, der das Geschäft betreibt.

Andere Fragen aus der Runde: „Wie gehen Sie mit den Blicken von Umstehenden um? Wie bekommen Sie Hilfe?“ Auch darauf ist die Antwort kurz und bündig: Man behandelt andere Menschen so, wie man selbst behandelt werden möchte – mit Freundlichkeit, Höflichkeit und Respekt. Dann macht man nämlich selbst sehr viele gute Erfahrungen mit anderen Menschen. In alten Sprichwörtern steckt oft ein gerütteltes Maß an Wahrheit und Lebenserfahrung. „Wie man in den Wald hinein ruft, so schallt es heraus“ ist eines davon, und der Befragte im Vogthaus kann es aus eigener Erfahrung bestätigen: Als Rollstuhlfahrer schlecht gelaunt und mit finsterem Gesicht unterwegs zu sein und allen anderen die Schuld daran zu geben, dass man selbst im Rollstuhl sitzt, nützt keinem und macht gar nichts einfacher, weder dem Rollstuhlfahrer selbst noch seiner Umgebung. Denn an der Behinderung ist niemand schuld, man selbst nicht, andere schon gar nicht.

Wie schnell eine kleine Unachtsamkeit von jemandem, der gehen kann, zu einem größeren Problem werden kann für einen, der im Rollstuhl sitzt, zeigte sich beim Verlassen der FBS nach der Veranstaltung. Der Hintereingang des Hauses ist über eine Rampe problemlos erreichbar – wenn nicht auf dieser Rampe gleich zwei Autos geparkt sind. Und zwar so, dass ein Vorbeikommen unmöglich wird. Böse Absicht steckte sicher nicht dahinter, wahrscheinlich eher Gedankenlosigkeit. Leichter wurde es dadurch nicht.