Hermann Kinder stellte im Max-Eyth-Haus seine Bemühungen um Berthold Auerbach vor
Der Versuch einer Wiederbelebung

Kirchheim. Literaturgeschichte kann gnadenlos sein. Da ist jemand „der international berühmteste Schriftsteller des 19. Jahrhunderts“, und heute ist er so gut wie vergessen. Hermann Kinder hat sich damit 


nicht abgefunden. Er hat sich gefragt, warum die Erinnerung an einen Schriftsteller, der in der literarischen Welt bekannter war als seine heute anerkannten Zeitgenossen wie Gottfried Keller oder Friedrich Hebbel, fast völlig vergessen ist, und einen „Wiederbelebungsversuch“ unternommen. Ergebnis dieser Rettungsaktion ist eine „Collage“: „Berthold Auerbach. Einst fast eine Weltberühmtheit“. Auf Einladung des Literaturbeirats stellte er in einer sonntäglichen Matinee im Max-Eyth-Haus sein kürzlich erschienenes Werk vor.

Der Referent stellte klar, dass ihn die literarischen Produkte Auerbachs wenig interessieren. Die Erzählungen lässt er „teilweise“ gelten, aber die Romane findet er „scheußlich“. Na so was. Dieser Autor sollte doch wiederbelebt werden? Kinder interessiert die Biografie Auerbachs, die ihn seit Langem durch seine Beschäftigung mit der Literatur des Realismus beschäftigt.

Doch wer war dieser einst so berühmte Berthold Auerbach? Er ist 1812 in Horb-Nordstetten geboren und 1882 in Cannes gestorben. Nordstetten war ein Dorf oberhalb von Horb im nördlichen Schwarzwald, das zur Hälfte vom sogenannten Landjudentum bewohnt war. Der junge „Moses“ Auerbach sollte Rabbiner werden wie sein Großvater, scheiterte aber damit, weil seine liberale Gesinnung nicht zum orthodoxen Judentum passte. Er studierte nebenher noch allerlei, neben Jura vor allem geisteswissenschaftliche Fächer. Er beherrschte die alten Sprachen. Wegen burschenschaftlicher Umtriebe handelte er sich einige Tage auf dem Hohen Asperg ein und das Verbot, Examen zu machen. So wurde er freier Schriftsteller, ein überaus fleißiger. Sein Werk umfasst Biografien, Essays, Kritiken, Dramen und eine Vielzahl von Romanen. Er war der dominierende Schriftsteller seiner Zeit, auch in Amerika und Russland ein Begriff, und zog sich auch damit den Neid oder sogar die Feindschaft seiner Schriftstellerkollegen zu, darunter war auch Hermann Kurz.

Auerbachs Markenzeichen sind bis heute die „Schwarzwälder Dorfgeschichten“. 2008 erschien eine Auswahl im Silberburg-Verlag. Dorfgeschichten, die in seinem Heimatdorf spielen, hat Auerbach dreißig Jahre lang geschrieben, obwohl er später ungeheuer mobil in vielen Städten gewohnt hat, auch in Tübingen und Stuttgart, und lange in Berlin. Den Stoff für seine Geschichten hat er sich von der Landbevölkerung erzählen lassen.

Kennzeichnend für seinen Stil ist eine Abkehr von der Romantik. Die Epoche des Realismus mit Kapazitäten wie Gottfried Keller und Theodor Fontane ist angebrochen. Auerbach wendet sich der Landbevölkerung zu. Doch sein Werk hat nicht gezündet. Seine Geschichten und Romane sind noch zu sehr im Wertekanon des deutschen Idealismus verhaftet. Sie sind moralinsauer erzieherisch. Warum sollte er dann wiederbelebt werden?

Kinders überraschende Antwort: Auerbach ist ein Vertreter der „Moderne“. Er „schließt unsere Zeit auf“, das heißt, er hilft, unsere heutige Zeit zu verstehen. Es schreibe mit ihm ein „Ahne“ der bürgerlichen Lebenshaltung, wie sie bis etwa 1980 maßgebend gewesen sei. Mit den Achtziger- jahren ist für Kinder aufgrund verschiedener Faktoren das bürgerliche Zeitalter vorbei. Doch bis dahin helfe die Beschäftigung mit Auerbach, das uns prägende bürgerliche Zeitalter zu verstehen.

Als Beweismaterial gelten für Kinder die Briefe Auerbachs, die dieser fünfzig Jahre lang an seinen Freund und Namensvetter Jakob geschrieben hat. Auerbach hat sie noch selbst – von privaten Passagen, zum Beispiel über seine unglückliche zweite Ehe, gereinigt – selbst herausgegeben.

Kinder stellte nun, keinesfalls marktschreierisch, sondern in zurückhaltend-bescheidener Weise, sein Werk vor. Er wollte keine Biografie schreiben, das würde zu einer „Vergewaltigung“ führen. So erfand er eine neue literarische Form. Die „Collage“ über Auerbach ist ein Ergebnis der Doppelbegabung Kinders. Der Schriftsteller Kinder ist preisgekrönter Romanautor und der Literaturwissenschaftler Kinder war an der Uni Konstanz tätig. Das vorgestellte Werk ist eine Mischung aus Zitaten von Auerbach, Überleitungstexten des Schriftstellers Kinder, einem informativen Anmerkungsapparat und einem ausführlichen Nachwort des Wissenschaftlers Kinder. Die Textsorten sind säuberlich getrennt: Auerbach-Zitate sind kursiv gedruckt, die Zwischentexte in der distanzschaffenden dritten Person abgefasst.

Der Referent rechtfertigte nun mit Zitaten aus seinem Werk die Behauptung, dass sich in Auerbachs Biografie bürgerliches Selbstverständnis spiegele, und pflückte die Aspekte Punkt für Punkt heraus. In der Religion ist eine Umpolung des Bürgers vom religiösen Ritus zur privatistischen Esoterik festzustellen. Der Bürger ist zerrissen zwischen Fremd-und Selbstbestimmung. Auerbach floh immer wieder vor seiner Familie, um zu arbeiten, und sehnte sich gleich wieder zu ihr zurück. Er war gepackt von der Unrast und dem Mobilitätszwang der Zeit, „Reisebilder“ haben Konjunktur.

Bürger wie Berthold Auerbach leiden unter dem Altwerden, tragen aber eine Todessehnsucht in sich. In Sachen Liebe herrschte Zerrissenheit, dem Verlust der Frau folgte bei Auerbach eine Abfuhr bei einer Werbung und eine missratene zweite Ehe. ­Auerbach stand im künstlerischen Wettbewerb. Er hatte – berechtigte – Ängste um seinen Nachruhm. Er stöhnte über die „Schrecken des Alltags“ wie das störende Klavierspiel in der Nachbarschaft. Noch bedrückender fand er den immer mehr aufkommenden Rassismus in bürgerlichen Kreisen. Er konnte die Gleichsetzung von „Deutscher“ und „Christ“ nicht akzeptieren. Er verstand sich als „deutscher Jude“ oder besser als „deutscher Dichter mit jüdischem Hintergrund“, der gegen­über den Franzosen geradezu chauvinistische Töne anschlägt.

Kinder vermittelte den Zuhörern in knapper Form viel Wissen und Stoff zum Nachdenken, über Auerbach, über die Literatur des 19. Jahrhunderts, über Bürgerlichkeit und über sich selbst.