Serie „Beste Freunde“ – Heute: Lilli und die Zirkusgruppe „Tigergirls“ der Jugendkunstschule Nürtingen
Der Zirkus ist ihr Leben

Nürtingen. Lilli Czarnetzki aus Nürtingen liebt den Zirkus. Wenn die 13-Jährige freitags zusammen mit den anderen Mädels der Zirkusgruppe „Tigergirls“ in der Jugendkunstschule Nürtingen trainiert, ist das


ihr Highlight der Woche. Denn hier hat sie Freundinnen gefunden. Hier kann sie sich austoben und ihren Rollstuhl in der Ecke stehen lassen – denn diesen mag sie überhaupt nicht, weiß Doro Brandstetter, Leiterin der „Tigergirls“: „Lilli krabbelt lieber.“

Seit über zwei Jahren gehört das Mädchen, das seit seiner Geburt körperlich behindert ist, der Zirkusgruppe an. „Sie leidet unter einer Art Spastik“, erklärt Lillis Mutter Anke Czarnetzki. „Die Bewegungsabläufe sind gestört, sie kann nicht frei gehen und stehen.“ Essen, sich anziehen oder einen Stift halten – auch das schafft Lilli nicht ohne Hilfe. Hinzu kommt, dass sie nur sehr langsam sprechen kann. Wer sie verstehen will, muss genau und aufmerksam zuhören.

Geistig ist das lebensfrohe Mädchen aber nicht beeinträchtigt. Deshalb besuchte es noch bis vor Kurzem die Mörikeschule in Nürtingen. „Mit großem Aufwand war dies möglich – aber es war keine Lösung auf Dauer“, sagt Anke Czarnetzki. Deshalb haben sich Lillis Eltern dazu entschlossen, ihre Tochter an einem Internat für Kinder mit Körperbehinderung in Neckargmünd bei Heidelberg anzumelden. „Dort kann sie den Haupt- oder Realschulabschluss oder auch das Abitur machen.“ Seit drei Wochen ist die 13-Jährige nun montags bis freitags in dem Internat untergebracht. Auf das Training „ihrer“ Zirkusgruppe muss Lilli deshalb aber keineswegs verzichten. „Wir machen das möglich“, betont Anke Czarnetzki. Denn ohne den Zirkus und ihre Freundinnen Alexia (13), Franzi (13), Jojo (12) und Steffi (14) sowie Doro Brandstetter wäre die 13-Jährige überaus unglücklich.

Jonglieren, balancieren, Seil laufen, Einrad fahren, Luftakrobatik oder auch Feuerjonglage: All das bringt Doro Brandstetter, die Sozialpädagogik studiert und eine Ausbildung zur Zirkuspädagogin absolviert hat, ihren Zöglingen bei. Mittlerweile arbeitet sie seit 16 Jahren an der Jugendkunstschule und leitet dort sieben Zirkusgruppen. Als Lillis Eltern eines Tages auf die 47-Jährige zukamen, war sie zunächst etwas unsicher. „Obwohl ich nach dem Abitur ein Jahr lang in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet hatte, war es für mich zuerst Neuland“, erzählt sie. „Aber ich habe mich auch gefordert gefühlt, und für mich war klar: Es muss möglich sein, Lilli in die Zirkusgruppe zu integrieren.“

Und tatsächlich: Das „Experiment“ ist gelungen. Zwar kann Lilli die Kunststücke nicht so vorführen wie die anderen Mädchen. Doch Doro Brandstetter findet immer einen Weg, das Mädchen einzubauen. Und auch Lillis Eltern geben alles, um es ihrer Tochter so einfach wie möglich zu machen. So hat Lillis Vater Andre Czarnetzki zum Beispiel ein spezielles Einrad für seine Tochter gebaut. Dieses besteht aus einem Möbelrollbrett und einem Einradsattel. „Lilli sitzt auf dem Sattel und kniet gleichzeitig auf dem Brett. Die Hände sind in der Luft oder sie hält sich vorne am Brettrand fest. So wird sie dann mitgezogen“, erklärt Doro Brandstetter. „Dieses Einrad ist der Renner bei den anderen Kindern“, erzählt die 47-Jährige schmunzelnd.

Neben dem Einradfahren haben es Lilli aber auch Übungen am Trapez angetan. Wenn es nicht allzu hoch hängt, kann sich Lilli alleine daran hochziehen. Mit Doro Brandstetters Hilfe kann sie aber auch auf dem Trapez sitzen und schaukeln.

In den ersten Trainingsstunden waren noch Anke Czarnetzki oder Lillis Bruder Nils anwesend. „Zum Übersetzen“, erklärt Doro Brandstetter. Mittlerweile jedoch verstehen sie und die vier Mädchen fast alles, was Lilli sagt. „Wir mussten uns zuerst an sie gewöhnen. Am Anfang war es schwierig, sich mit ihr zu unterhalten“, räumt Steffi ein. Doch das habe sich gelegt. Die Mädchen bemerkten schnell, dass Lilli „sehr nett und immer fröhlich ist“. Außerdem gebe sie viele Tipps, wie man manche Dinge besser umsetzen kann, ergänzt Steffi. „Lilli sieht sehr aufmerksam zu“, weiß auch Doro Brandstetter.

„Die Mädchen haben gelernt, wie man mit einem Menschen mit 
 Behinderung umgeht“, hat die 47-jährige Stuttgarterin beobachtet. „Sie machen das ganz toll.“ Sie als Leiterin der Zirkusgruppe müsse allerdings auch darauf achten, dass Alexia, Franzi, Jojo und Steffi nicht zu kurz kommen.

Lillis Eltern jedenfalls sind überaus froh darüber, dass Lilli so gut in die Zirkusgruppe integriert und auch bei diversen Auftritten mit von der Partie ist. Es sei nicht einfach gewesen, eine Freizeitbeschäftigung für ihre Tochter zu finden, erzählt Anke Czarnetzki. Der Zirkus sei Lillis Wunsch gewesen. „Deshalb haben wir es versucht – wir versuchen alles, was möglich ist. Das ist unsere Devise, ein ganzes Leben lang.“ Durch die Zirkusgruppe erhalte Lilli auch Selbstbewusstsein. „Das ist ganz arg wichtig.“

Für Doro Brandstetter ist es sehr faszinierend, wie Lilli mit ihrer Behinderung umgeht: „Von ihrer Lebensfreude und ihrem großen Durchhaltevermögen bin ich total beeindruckt“, schwärmt sie. Das Mädchen habe sie auch gelehrt, ihre eigenen Probleme nicht so ernst zu nehmen.

Manchmal aber habe Lilli auch traurige Phasen. Nicht einfach war für sie zum Beispiel der Wechsel von der Mörikeschule auf das Internat. „Sie weinte und sagte, wir sollen sie ablenken – vor allem, weil zuerst 
nicht
 klar war, ob sie weiterhin zur Zirkusstunde kommen kann“, erinnert sich Steffi. „Wir haben sie dann getröstet.“

Auch die Überlegungen des Nür­tinger Gemeinderats, die Jugendkunstschule aus finanziellen Gründen zu schließen, ließen Lilli in den vergangenen Wochen nicht kalt: „Für die Protestaktion hatte sie extra Plakate gemalt“, erzählt Anke Czarnetzki.

Dass die Zukunft der Einrichtung nun gesichert ist, freut nicht nur Doro Brandstetter, Alexia, Franzi, Jojo und Steffi, sondern vor allem auch Lilli. Schließlich hat sie in der Zirkusgruppe ihre besten Freundinnen gefunden. Der Zirkus ist ihr Leben . . .