Traditionell war gestern zum Auftakt der Abiturprüfungen Aufsatzschreiben angesagt
Deutsch und das wirkliche Leben

Die Zahl der Abiturienten, die gestern in Kirchheim einen Deutsch-Aufsatz verfasst haben, hat sich wieder „normalisiert“: Nach dem Mammutjahrgang im vergangenen Jahr war dieses Mal der erste reine G 8-Zug an der Reihe. Aber eins ist über die Jahre unverändert geblieben: die Beliebtheit des Interpretationsaufsatzes.

Andreas Volz

Kirchheim. Wieder einmal haben sich in Kirchheim mehr als die Hälfte der 360 Abiturienten für das entschieden, was sie am längsten hatten vorbereiten können: eine Textstelle aus dem Pflichtlektürekanon zu interpretieren und anschließend noch eine vergleichende Betrachtung zu schreiben. An den Beruflichen Gymnasien (WG an der Jakob-Friedrich-Schöllkopf-Schule und TG an der Max-Eyth-Schule) ging es dabei zunächst um eine Textstelle aus Max Frischs „Homo faber“ und danach um den Vergleich der Weltsichten von Walter Faber und von Georg Büchners Titelheld Georges Danton.

An den beiden allgemeinbildenden Gymnasien (Schloss- und Ludwig-Uhland-Gymnasium), die den Großteil der Kirchheimer Abiturienten stellen, war Josef K.s Auftritt bei der „Ersten Untersuchung“ in Franz Kafkas „Proceß“ zu interpretieren. Für die vergleichende Betrachtung im zweiten Teil des Interpretationsaufsatzes hieß das zentrale Thema: „Die Bedeutung des Gerichts“. Zu vergleichen waren unter diesem Aspekt sogar Hauptfiguren aus drei unterschiedlichen Werken – außer Josef K. noch Kleists Michael Kohlhaas sowie Alfred Ill aus Friedrich Dürrenmatts „Besuch der alten Dame“. Alle drei müssen sich aus unterschiedlichen Gründen für ihr Tun verantworten, und ihnen allen fehlt die rechte Einsicht in die Schuld, die sie auf sich geladen haben. Allerdings sind es mitunter sehr dubiose Gerichte, die sie jeweils zum Tod verurteilen.

Für alle drei literarischen Helden gibt es immer wieder denkbare Auswege, um dem Verhängnis zu entkommen. Eine dieser scheinbaren Fluchtmöglichkeiten bietet sich auch Alfred Ill, der am Bahnhof nicht wagt, den Zug zu besteigen, weil ihn ja doch irgendeiner zurückhalten werde. Genau diese Szene sollte Anlass geben für ein Gespräch zwischen dem Lehrer, dem Pfarrer und dem Polizisten. Dürrenmatt hat ein solches Gespräch nicht verfasst. Stattdessen waren Baden-Württembergs Abiturienten an den allgemeinbildenden Gymnasien gestern aufgefordert, sich diese Unterhaltung auszumalen. Aber auch hier zeigte sich, dass die Gestaltende Interpretation nicht zu den beliebtesten Aufsatzgattungen gehört: Gerade einmal sechs Aufsatzschreiber wagten sich in Kirchheim an dieses Thema.

Nicht besser ging es der Literarischen Erörterung: Ebenfalls nur sechs Kirchheimer Gymnasiasten wollten anhand ihrer eigenen Leseerfahrung erörtern, inwieweit sie Georg Büchner zustimmen können. Dieser hatte sich 1835 in einem Brief an seine Familie gegen die Aussage gewehrt, „der Dichter müsse die Welt nicht zeigen, wie sie ist, sondern wie sie sein solle“. Büchner dagegen wollte sich als Dichter nicht über Gott erheben, „der die Welt gewiss gemacht hat, wie sie sein soll“.

Eine Aufsatzart, um die Generationen von Schülern einen Bogen gemacht haben, hatte gestern in Kirchheim einen beachtlichen Erfolg zu verzeichnen: die Gedichtinterpretation. Knapp 50 Aufsatzschreiber hatten die Aufgabe übernommen, Bertolt Brechts „Sonett Nr. 19“ und Sarah Kirschs Text „Dreistufige Drohung“ zu interpretieren und miteinander zu vergleichen. In beiden Fällen geht es um Trennungsabsichten seitens des „Du“ und um subtile Gegenargumente des „Ich“, die sich um Freiheit und Bindung innerhalb einer Liebesbeziehung drehen.

Noch besser angesehen als die Liebeslyrik war gestern die Texterörterung, die entweder ganz klassisch erfolgen konnte oder aber in einer Rede zum Thema „Rituale in unserer Zeit“ gipfelte. Grundlage für beides war ein Zeitungstext, dessen Autor sich zunächst darüber lustig macht, dass das Ritual des Abi-Balls mit Anzug oder Abendkleid und in Anwesenheit der Eltern wieder Hochkonjunktur hat – als ob es nie Zeiten gegeben hätte, in denen diese vermeintlich verstaubten Traditionen mit Vehemenz bekämpft worden waren. Vielleicht war es die Nähe zum bevorstehenden eigenen Abi-Ball, die mehr als 70 Aufsatzschreiber für die Debatte um Rituale begeisterte.

Ein wichtiges Ritual des Abiturs sieht vor, dass die Beruflichen Gymnasien teilweise andere Aufsatzthemen zur Auswahl bekommen. Dort konnte also auch eine Erzählung von Botho Strauß interpretiert werden. Das Essay-Thema lautete „Vom Umgang mit Neid“, und außerdem war noch eine Texterörterung im Angebot – zu einem nicht-fiktionalen Text mit dem Titel „Weltkurzsichtigkeit“.

Weitere Abiturrituale, die sich weniger ums Inhaltliche drehen, scheinen darin zu bestehen, mit halben Expeditionsausrüstungen an Nahrung und Getränken zur Prüfung anzutreten. Und dann gibt es inzwischen eine Vielzahl von Glück- und Erfolgswünschen, die andere Schüler den jeweiligen Matadoren auf Plakaten überbringen. Auf einem davon war gestern sogar ein durchaus geeignetes Aufsatzthema angerissen: Es ging um die Frage, ob das Fach Deutsch, ob Deutsch- und Literaturkenntnisse sowie die Fähigkeit, sich schriftlich auszudrücken, nur für die Schule wichtig sind oder auch fürs Leben. Im ersten Fall wären die Abiturienten jetzt bereits mit ihrem Deutsch am Ende. Im anderen Fall würde es in Bälde erst richtig losgehen.