Ergreifende Rede von Oberbürgermeisterin Matt-Heidecker bei Gedenkfeier zum Volkstrauertag
„Deutschland kann mehr tun“

Nicht nur Stammgäste kamen zur Gedenkfeier zum Volkstrauertag auf den Alten Friedhof. Unter den gut 100 Besuchern waren auch neue Gesichter. Sehr zur Freude von Oberbürgermeisterin Matt-Heidecker, die eine ergreifende Gedenkrede hielt.

PETER DIETRICH

Kirchheim. Vielen jungen Europäern mögen Frieden und Freiheit selbstverständlich scheinen. Doch sie sind es nicht. „Der Frieden muss immer wieder neu erarbeitet werden“, betonte Matt-Heidecker. Das Wissen, zu welcher Verrohung des Denkens und Handelns Menschen fähig sind, dürfe nie in den Hintergrund geraten. Immer wieder zitierte sie die Aufforderung des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss: „Sorgt ihr, die ihr noch im Leben steht, dass Frieden bleibe, Frieden zwischen den Menschen, Friede zwischen den Völkern.“

Der Volkstrauertag wurde erstmals im März 1922 als Gedenkstunde im Berliner Reichstag abgehalten. Reichstagspräsident Paul Löbe forderte auf, die Toten zu ehren, ohne dabei in glorifizierende Heldenverehrung zu verfallen. Er bezog ausdrücklich die Kriegstoten der anderen Völker mit ein. Die Nazis machten ab 1934 einen „Heldengedenktag“ daraus, rund 12 000 im Ersten Weltkrieg gefallene deutschen Soldaten mit jüdischem Glauben blieben nun ausgegrenzt. Ihre Namen wurden aus Gedenkbüchern und von Ehrenmalen entfernt.

„Wir denken heute an die Opfer von Gewalt und Krieg, an Kinder, Frauen und Männer aller Völker“, sagte Matt-Heidecker. Sie erinnerte an die Soldaten, die wegen „Wehrkraftzersetzung“ oder ähnlicher Anschuldigungen von ihren eigenen Landsleuten hingerichtet wurden. „Wir gedenken neben der in Gefangenschaft gestorbenen deutschen Soldaten auch der nahezu drei Millionen russischer Kriegsgefangenen, die in deutschen Lagern an Hunger und Entkräftung starben. Wir gedenken derer, die als Vertriebene und Flüchtlinge ihr Leben verloren.“

Matt-Heidecker erinnerte an die, die wegen einer Krankheit oder Behinderung als lebensunwert bezeichnet wurden. „Grafeneck, nicht weit von hier auf der Schwäbischen Alb, ist uns Ort ständiger Erinnerung und Mahnung. So wie das Grab der Pauline Reinhart hier auf diesem Friedhof, deren drei kleine Kinder 1943 in Auschwitz umgebracht wurden: Brunhilde, drei Jahre, Siegfried, zwei Jahre, und Z-7490, nach der Geburt ermordet.“ Es gebe sie nach wie vor, die Verbrecher, die sich am Nazi-Gedankengut orientieren. „Sie verbreiten nicht nur ihre bösen Parolen, sie schrecken auch vor Mord nicht zurück.“ Das Gedenken gelte auch jenen, die im Widerstand ums Leben kamen, weil sie an ihrer Überzeugung oder ihrem Glauben festhielten. Es gelte den vergewaltigten Frauen, „die zu allen Zeiten Opfer im Krieg und danach wurden“.

Der Friede, forderte Matt-Heidecker, müsse mit rechtsstaatlichen Mitteln verteidigt werden. Der Einsatz von Drohnen gehöre nicht dazu. „Nach deutschem Strafrecht ist das die Vollstreckung der Todesstrafe ohne Verfahren, also Totschlag oder Mord.“ Deshalb dürfe der BND keine Daten an die USA liefern, die der präzisen Ortung dienten. Matt-Heidecker bat auch, die heimkehrenden Bundeswehrsoldaten nicht zu vergessen: „Wie begegnet die Bevölkerung jenen, die körperlich oder seelisch verletzt aus dem Einsatz zurückkehren?“

Im Nahen Osten wüte ein Feuersturm: „Es wird einem bang bei dem Gedanken, wer darin noch verzehrt wird.“ Gebe es Parallelen zum „europäischen Frühling“ von 1848, der Jahrzehnte der Instabilität zur Folge hatte? 500 000 Syrer fanden im armen Jordanien Aufnahme, Deutschland habe großzügig 5 000 aufgenommen. „Ich wünsche mir ein offenes Land für Menschen, die Zuflucht suchen. Ich wünsche mir eine Antwort, wie man Fremde menschenwürdig und sozialverträglich in einer Wohlstandsgesellschaft unterbringt. Deutschland kann mehr tun, bei der Bekämpfung der Ursachen von Flucht und Asyl, bei der Beschleunigung des Asylverfahrens, bei der dezentralen Unterbringung und vor allem bei der Frage, für wen diese Land dauerhaft offen sein will.“

Musikalisch wurde die Gedenkfeier mit Kranzniederlegung von der Stadtkapelle Kirchheim und den Happy Voices des Gesangvereins Eintracht Kirchheim 1868 gestaltet. Anina Leisner vom Schlossgymnasium und Lena Ziegler und Lukas Kicherer vom Ludwig-Uhland-Gymnasium trugen Gedichte vor. Im Gedicht „Verzicht“ von Gudrun Pausewang kam eine Vertriebene zu Wort. Sie hatte sich Vergeltung vorgenommen. Doch in dem Haus, in dem sie einst lachte und sang, hörte sie jetzt andere Kinder lachen. „Spielt weiter, ihr Kinder, ich sehe euch gern“, sagt sie, will selbst niemand anderen hassen oder heimatlos machen.

Eine Heimat hatte das Gedenken gestern auch in Jesingen, bei einer Gedenkfeier mit Ortsvorsteher Christopher Grampes und Schülern der Werkrealschule. In Lindorf gab es eine Feier mit Ortsvorsteher Stefan Würtele und Pfarrerin Rosemarie Fröhlich-Haug, Stadtrat Dietmar Hoyler legte einen Kranz nieder. Nach dem Gedenken mit Ortsvorsteher Hermann Kik und Schülern der Eduard-Mörike-Schule in Ötlingen pflanzten Jugendliche an der Lindorfer Straße einen Friedensbaum. In Nabern folgt die Ehrung der Gefallenen, Vermissten und Toten am nächsten Sonntag, dem Totensonntag, um 10.30 Uhr.