Am Holocaust-Gedenktag hat der Rabbiner, Historiker und Judaist Professor Ismar Schorsch der Stadt Esslingen einen Besuch abgestattet. Das Erbe zu bewahren und die Fäden der gemeinsamen Geschichte wieder aufzunehmen, ist dem Enkel Theodor Rothschilds ein Anliegen.
Dagmar Weinberg
Esslingen. Das Goethe-Zitat „Was du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen“, ist für Ismar Schorsch, Rabbiner, Historiker und Judaist, „zum Leitspruch meines Lebens geworden, und ich bin sehr glücklich, dass ich ein so reiches Erbe habe, das ich verstehen, erklären und weitergeben kann“. Deshalb ist ihm die Verbindung zu Esslingen sehr wichtig, „auch wenn ich keine persönlichen Erinnerungen mehr an meinen Großvater habe“. Denn der heute 77-Jährige war gerade einmal drei Jahre alt, als er wenige Wochen nach der Reichspogromnacht gemeinsam mit seinen Eltern Emil und Fanny Schorsch und seiner sechs Jahre älteren Schwester Hanna von den Nationalsozialisten aus der Heimat vertrieben wurde.
„Meine Eltern haben mit uns Kindern beim Großvater Ferien gemacht“, erzählt der Professor und langjährige Kanzler des bekannten New Yorker Jewish Theological Seminars. „Aber ich war zu klein, um mich an ihn und Esslingen zu erinnern.“ Geblieben ist ihm nur ein Brief des Großvaters, der wie der Nachlass des Rabbiners Emil Schorsch und weitere Briefe Rothschilds an die Familie im renommierten Leo Baeck Institut lagert. „In dem Brief bedauert mein Großvater, dass er nicht miterleben kann, wie seine Enkelkinder aufwachsen. Das ist natürlich sehr bewegend.“
Bewegt hat den promovierten Historiker und Experten für deutsch-jüdische und deutsche Geschichte („das eine ist ohne das andere nicht möglich“) der Besuch des Konzentrationslagers Bergen-Belsen im vergangenen Jahr. „Es ist beeindruckend, wie viel die Deutschen in dieses Museum und die Gedenkstätte investiert und was sie daraus gemacht haben.“
Ganz anders war das Bild, das sich ihm und seiner Schwester noch 1977 bot, berichtete Schorsch bei der Gedenkstunde im Gemeindehaus am Blarerplatz, die sich dem Stadtempfang anschloss. Bei einer Reise durch Süddeutschland besuchten sie das Konzentrationslager Dachau. Das Museum war damals noch weitgehend privat finanziert, der Besucher musste sich mühsam zusammenreimen, was er da sah. „Die begrenzte staatliche Investition in Dachau lieferte einen Beweis dafür, wie unselbstverständlich dieser Ort der Erinnerung seinerzeit noch war.“
Dachau Ende der 70er-Jahre und Bergen-Belsen heute sind für Ismar Schorsch Sinnbilder des weiten Wegs, den die Deutschen gegangen sind, um sich zu ihrer Geschichte zu bekennen und sie zu verinnerlichen. „Sie haben die Bürde auf sich genommen und sind zu einem tiefen Bekenntnis ihrer Schuld gekommen.“ Dieser Staat habe nichts mehr mit dem Land zu tun, das sein Vater Emil 1963 erstmals wieder besucht hat. Aus einer Empfindung, die einst nur Konrad Adenauer zeigte, indem er 1952 einer Wiedergutmachung für Israel und Überlebende des Holocaust zustimmte, „ist eine in der Gesellschaft breit verankerte Entschlossenheit geworden, Verantwortung für die eigene Vergangenheit zu übernehmen“, betont Ismar Schorsch. „Dies ist für uns Genugtuung, aber zugleich auch Mahnung, auf diesem Weg weiterzugehen“, unterstrich Esslingens Bürgermeister Markus Raab.