Kirchheim. Dorothee Ostertag-Sigler ist beim Sozialpsychiatrischen Dienst Kirchheim unter anderem für die Beratung, Begleitung und Betreuung psychisch kranker Menschen zuständig. Auch Angehörige berät sie in Einzelfällen. Im Gegensatz aber zur Kontaktgruppe für die kranken Menschen, die einmal in der Woche ein fester und wichtiger Treffpunkt ist, hat es für die Angehörigen über viele Jahre hinweg an einer Möglichkeit gefehlt, sich zu treffen und auszutauschen.
Was Dorothee Ostertag-Sigler derzeit vermehrt feststellt, ist das Phänomen, dass immer mehr junge Leute zwischen 18 und 25 Jahren zu ihr kommen. Für diese Altersgruppe gebe es aber nur wenige Angebote und kaum Einrichtungen. Die Angehörigen – in diesem Fall meistens die Mütter, aber auch Schwestern oder Partnerinnen – fühlen sich alleingelassen. „Ich kann das nur bedingt auffangen“, sagt die hauptamtliche Leiterin der Kontaktgruppe. Deshalb bestehe jetzt Handlungsbedarf, der Kontaktgruppe für die Kranken ein ähnliches Angebot für die Angehörigen hinzuzufügen.
Die Nöte der Angehörigen seien sehr vielfältig. Häufig fehle es an Aufklärung und an Personen, die Klartext reden. Außerdem sind psychische Erkrankungen nach wie vor ein großes Tabuthema: „Darüber spricht man nicht“, sagt Dorothee Ostertag-Sigler. Betroffene und Angehörige würden immer wieder sagen: „Das versteht niemand.“ Und Außenstehende scheinen diese Einschätzung nur allzu oft zu bestätigen, wenn sie psychisch Kranken den pauschalen „Ratschlag“ erteilen: „Die sollen sich halt mal zusammenreißen.“
Gerade deshalb sei es auch für die Angehörigen wichtig, sich mit anderen über die eigenen Erfahrungen auszutauschen – mit anderen, die verständnisvoll sind, weil sie vieles selbst schon genauso erlebt haben. „Wir wollen aber keine Selbsthilfegruppe aufbauen, sondern eine Angehörigengruppe unter fachlicher Leitung“, sagt Dorothee Ostertag-Sigler. Für die fachliche Leitung konnte sie die Sozialpädagogin Ursula Parth gewinnen, die über eine entsprechende Zusatzausbildung verfügt und die auch schon Erfahrungen mit solchen Gruppen mitbringt.
Dass die fachliche Leitung wichtig ist, davon ist Dorothee Ostertag-Sigler überzeugt: „Wer zu uns kommt, ist schwer krank und hat eigentlich keine Perspektive auf Heilung. Trotzdem ist es wichtig, Hoffnung zu vermitteln, auch den Angehörigen. Es gibt nämlich Möglichkeiten, den Umgang mit der Krankheit zu erlernen.“
Auch die Angehörigen müssen zu ihrem eigenen Umgang finden. Wenn ein Kind psychisch erkrankt, sei das zunächst ein große Belastung für die Eltern, weiß Dorothee Ostertag-Sigler aus langjähriger beruflicher Erfahrung. Da gebe es dann schnell Schuldzuweisungen, wer das Kind in die Krankheit getrieben habe. Dabei sei eine psychische Erkrankung nicht anders als eine andere Krankheit, die wirklich jeden treffen kann – wie beispielsweise Krebs oder Alzheimer oder ein Herzinfarkt.
Kranke wie Angehörige sollten sich also nicht ständig mit Fragen nach einer möglichen Schuld quälen. Vielmehr sollten sie aufhören, etwas verheimlichen zu wollen, und stattdessen mehr am eigenen Selbstbewusstsein arbeiten. Für alle diese Aufgaben gibt die Angehörigengruppe Hilfestellung, denn eines ist für Dorothee Ostertag-Sigler besonders wichtig: „Die Angehörigen brauchen viel Kraft um weiterzumachen. Da hat jeder seine eigene Art, und in der Gruppe kann man von anderen lernen und Mut fassen, auch selbst einmal andere Wege zu beschreiten.“
Beispielsweise gehe es auch darum, Verantwortung an den Kranken zurückzugeben, ohne sich deswegen Vorwürfe zu machen. Und dazu gehöre auch das Wissen darum, dass eine psychische Erkrankung durchaus eine tödliche Erkrankung sein kann. Deshalb müssten sich Angehörige immer wieder die Frage stellen: „Wie weit bin ich erpressbar?“
Die Angehörigengruppe soll sich einmal im Monat dienstags von 19.30 bis 21 Uhr treffen. Der Kontakt lässt sich über die Telefonnummer 0 70 21/92 09 20 herstellen. Ziel der Gruppe ist es, „einen positiven Blickwinkel zu kriegen“. Kranke und Angehörige sollten sich klar machen, dass die Krankheit zu ihrem Leben gehört: „Aber sie ist nur ein Teil des Lebens, und wir wollen gemeinsam nach anderen, positiven Teilen des Lebens suchen – nach Stärken.“