Kirchheim. Wachsen und Werden, Einblicke in das Leben der Tiere, der Mensch im Wandel der Zeiten und die Kultivierung der Linie – diese Aspekte stellte der Kunsthistoriker
Ernst Bühler einst als zentrale Positionen des Werks von Hermann Kirchner (1899 – 1978) im Rahmen einer Gedenkschrift zum 100. Geburtstags des Künstlers heraus.
Denselben Themen ist auch die aktuelle Ausstellung in der Städtischen Galerie im Kornhaus verpflichtet, die das künstlerische Werk Hermann Kirchners würdigt, der über dreißig Jahre lang bis zu seinem Tod als Heilpädagoge am Michaelshof in Hepsisau tätig war.
In Breslau geboren, wurde Hermann Kirchner bereits als Zwölfjähriger auf Empfehlung des renommierten Architekten Hans Poelzig an die Abendkurse der dortigen Kunstakademie aufgenommen. Die traumatischen Erlebnisse des Ersten Weltkrieges, in den der junge Kirchner zunächst als Freiwilliger gezogen war, führten dazu, dass er sich nicht mehr ausschließlich der Entfaltung des eigenen künstlerischen Schaffens widmen, vielmehr seine musischen Talente in den Dienst behinderter Menschen stellen wollte.
So leistete er im schlesischen Pilgramshain Pionierarbeit auf dem Feld der noch jungen Kunsttherapie, in der das von ihm entwickelte dynamische Formenzeichnen bis heute eine wichtige Rolle spielt. Eine verdienstvolle und fruchtbare Arbeit, die jedoch durch nationalsozialistischen Ungeist und den Lauf des Zweiten Weltkriegs einen jähen Abbruch erfuhr.
Als Hermann Kirchner im Herbst 1946 aus der russischen Gefangenschaft zurückkehrte, sah er sich vor die Aufgabe gestellt, im Alter von 47 Jahren mit seinem künstlerischen und heilpädagogischen Lebenswerk ein zweites Mal zu beginnen. Vielleicht war diese harsche biografische Zäsur der Grund für den erstaunlichen Schaffensdrang, der in den kommenden drei Jahrzehnten neben der künstlerischen Ausgestaltung der Bauten am Michaelshof ein vor Vielfalt strotzendes Werk von rund 300 Gemälden und Tausenden von Zeichnungen entstehen ließ.
Aus dieser quantitativen Fülle zeigt die Kirchheimer Werkschau nun gut vierzig repräsentative Arbeiten. Rudolf Mrazek, ein enger Schüler Kirchners, führte in die Ausstellung ein und baute den Vernissagegästen zahlreiche Brücken zum eigenen Erleben der Bilder. So sind Dynamiken von Wachsen und Werden mit der in mehreren Variationen ausgeführten „Geburt des Mäander“ sowie den „Samenkorn“-Bildern anhand weißer und gelber sich flächenhaft ausschwingender Kurven erfahrbar.
Ein faszinierender Kontrast ergibt sich aus der geballten und gestauten Kraft des vital aus dem Leben gegriffenen „roten Stiers“ im Gegenüber mit der lyrisch anmutenden Komposition einer „Möwe über der Woge“. Die Exponate „Tempelschlaf“ und „Leda mit dem Schwan“ verweisen auf altägyptische Kultur und griechische Mythologie und zeichnen sich durch starke Geometrisierungen und ein streng gehaltenes Kolorit aus.
Ein weiterer Ausstellungsbereich ist den Arbeiten zu christlichen Themen vorbehalten. Dem in Farbe und Form jubilierenden „Einzug in Jerusalem“ folgen die lastende, in liturgischem Violett gehaltene „Kreuztragung“ sowie die in ihrer formalen Prägnanz und strengen Architektur beeindruckende Arbeit „Golgatha“.
Die Linie verstand Hermann Kirchner nicht als Kontur, als Begrenzung eines Gesehenen, sondern als Ausdruck eines Werdenden, als Bewegungsspur. Die Form aus dem Bewegungselement heraus zu gestalten, war ihm ein wesentliches Anliegen. Auf humorvolle Weise ist eine solche Verlebendigung der Linie in der Ausstellung anhand etlicher Karikaturen zu studieren, in denen Kirchners zeichnerische Meisterschaft auf menschlich zugewandte, gänzlich unprätentiöse Weise offenbar wird.
Die Ausstellung „Hermann Kirchner – Malerei und Grafik“ ist noch bis einschließlich Sonntag, 8. Januar 2012, im ersten Obergeschoss der Städtischen Galerie im Kornhaus zu sehen. Am Sonntag, 18. Dezember, findet um 15 Uhr eine Führung samt Galeriegespräch mit Rudolf Mrazek statt.