Kirchheim. „Der Zeit ihre Kunst, der Kunst ihre Freiheit“ – so lautet das Motto der Wiener Secession, seit über 100 Jahren in goldschimmernden Lettern über dem Eingangsportal des gleichnamigen Ausstellungsgebäudes am Rand des Naschmarkts nachzulesen. Aber gerade die Begriffe „Kunst“ und „Freiheit“ wurden damals wie heute sehr unterschiedlich interpretiert, und selbst die Mitglieder der Wiener Secession waren sich schon nach wenigen Jahren wieder uneins über die richtige Definition von „Kunst“. Von der „Freiheit“ dagegen gibt es zwei Definitionen, die im allgemeinen Bewusstsein verankert sind und von denen zumindest eine Rosa Luxemburg zugeschrieben wird: Die Freiheit ist demnach einerseits „immer die Freiheit der Andersdenkenden“, und andererseits hört sie als die Freiheit des einen grundsätzlich da auf, „wo die Freiheit des anderen beginnt“.
Nun hat im Kirchheimer Kornhaus eine Künstlergruppe eine Installation verwirklicht, die die Diskussionen um Kunst und Freiheit, vielleicht sogar um Kunstfreiheit, kräftig anheizt: Aus der assoziativen Verbindung der Begriffe „Popcorn“ und „Kornhaus“, die nur sehr bedingt etwas miteinander zu tun haben, ist die Idee entstanden, das Kornhaus zum „Popkornhaus“ zu machen. Dadurch, dass die Vitrinen prall gefüllt sind mit dem gängigen Kino-Accessoire, entsteht der Eindruck, als sei das gesamte Gebäude vollgestopft mit Puffmais, so wie es früher einmal voll mit herkömmlichem Korn gewesen sein mag.
Verstärkt wird der Eindruck des überquellenden Popkornhauses, der ja durchaus zum Herstellungsprozess von Popcorn passt, dadurch, dass die Kornhausarkaden ebenfalls zur Installation gehören: Der Boden der Arkaden ist mit Popcorn übersät. Sollte es nun Absicht der Künstler gewesen sein, zusätzlich zur Verwirklichung ihrer eigenen künstlerischen Ambitionen die Kirchheimer Bürger durch das Verstreuen von Popcorn zu provozieren, dann scheint diese Saat durchaus aufgegangen zu sein.
Stadtrat Ralf Gerber von der Fraktion der Freien Wähler hat sich beim sonntäglichen Kirchgang über die Installation – in erster Linie über das verstreute Popcorn, das von den Kornhausarkaden aus in der halben Innenstadt verteilt werde – so sehr geärgert, dass er nach eigener Aussage nicht einmal die „preußische Beschwerdefrist“ einhalten konnte: Noch bevor er eine Nacht darüber geschlafen hatte, beschwerte er sich schriftlich bei der Oberbürgermeisterin über diese „Schweinerei“. Und auch zwei Tage später, in der Sitzung des Finanz- und Verwaltungsausschusses, als es ausgerechnet um das Ordnungsamt und um Sauberkeit in der Stadt ging, hielt er sich mit seiner Kritik am Kunstprojekt nicht zurück.
Für ihn jedenfalls hört die künstlerische Freiheit eindeutig da auf, „wo sie die Bemühungen der Stadt um Sauberkeit konterkariert“. Zu allem Überfluss sei die aktuelle Installation auch noch „ein Festmahl für Tauben“, während die Stadt seit Jahren versuche, der Taubenplage Herr zu werden.
Die wortspielerische Verbindung von Popcorn und Kornhaus gefällt ihm eigentlich ganz gut, und er hätte auch nichts gegen das Verstreuen von Popcorn im Arkadengang während der Ausstellungseröffnung gehabt. Aber nach diesem Happening hätte das Popcorn auf jeden Fall wieder vom Boden entfernt werden müssen, findet er. Denn jetzt sei das Popcorn lediglich „als Kunst getarnter Müll“, und das wiederum macht Ralf Gerber beinahe sprachlos: „Wir diskutieren über Sauberkeit in der Stadt, und dann wird unter dem Deckmantel der Kunst eine solche Riesensauerei veranstaltet, die auch noch von uns gefördert wird.“
Ralf Gerber geht davon aus, dass ein Großteil der Kirchheimer seine Meinung teilt. Er spricht von einer „anderen Welt“, in der solche Künstler und ihre Befürworter leben. Er ist sich auch bewusst, dass es wieder „einige schlaue Menschen“ geben wird, „die meine Erregung als genau das verstehen wollen, was Kunst soll: zur Diskussion anregen“.
Wenn Kunst also nicht mehr tun soll als zur Diskussion anzuregen, dann hat sie dieses Ziel aktuell zumindest in Kirchheim erreicht. Eines sollte dann aber auch Ralf Gerber zuversichtlich stimmen: Die Popcorn- Galerie wird spätestens am 30. September wieder Geschichte sein, denn einen Tag zuvor endet die Installation. Das goldgelb schimmernde Popcorn wird das Kirchheimer Kornhaus also nicht so lange beherrschen wie das Zeit-Kunst-Freiheit-Motto das Wiener Secessionsgebäude.