Lenningen. Belen war offenbar nicht gnädig gestimmt. Der Sonnengott der Kelten schickte unablässig Regen vom Himmel. Vier Wochen lang hatten die Theaterleute der Theaterspinnerei Frickenhausen und ein Schwarm von Helfern geprobt, geschuftet und organisiert – zum Beispiel einen Shuttleverkehr von Kirchheim nach Schopfloch eingerichtet – , um im Steinbruch des Naturschutzzentrums Rulaman und seine Welt lebendig werden zu lassen. In den vergangenen zwei Wochen herrschten ideale Probenbedingungen. Dann kam punktgenau zur Premiere der Wetterumschlag.
Doch die Theaterleute ließen sich nicht unterkriegen. Die Zuschauer waren unter zwei Zeltdächern sowieso im Trockenen geborgen, und die Spieler zeigten, völlig durchnässt, Kampfesmut und zogen scheinbar unbeeindruckt ihr Spiel durch. Schließlich hat die Theaterspinnerei auch Erfahrung mit außergewöhnlichen Schauplätzen. Ob Schwimmhalle, Eisenbahnstationen oder Talwald: Vor jeder Kulisse lässt sie Theaterleben erwachen. Dieses Mal ist der Steinbruch bei Schopfloch bestens geeignet, die Altsteinzeit und Rulaman herbeizufantasieren.
So mancher mag sich zunächst die Frage stellen: Rulaman als Theaterstück – wie soll das gehen? Der jugendliche Held kämpft doch unablässig mit Löwen, Wölfen, Bären und Kalats. Doch der versierte Autor der Theaterspinnerei, Stephan Hänlein, weiß Rat. Er präsentiert ein „multimediales Erzähltheater“. Mit Projektionen werden Fantasiegestalten und Kampfszenen, akustisch unterstützt, an die Felswand projiziert. Erzähltheater heißt aber auch: Es wird weniger agiert als erzählt.
So beginnt als erster der Fels selbst zu erzählen. Breitmäulig erinnert er mit tiefer Bassstimme an die Eiszeit, das Jurameer und die Entstehung der Alb, deren Teil er ist, und an die ersten Menschen, die hier – dem Autor David Friedrich Weinland zufolge– in den Höhlen wohnten, die Aimats. Überraschenderweise treten zunächst keine Aimats auf, sondern ein junges Paar der heutigen Zeit, das sein Quartier in einem Zelt vor dem Felsen aufschlägt. Der junge Mann ist ganz Kind des 21. Jahrhunderts. Er hantiert ständig mit seinem iPod und lebt in einer virtuellen Welt. Seine Partnerin hat dagegen noch ein Sensorium für ein natürliches Leben und dessen Geheimnisse. Dieses Paar lässt Stephan Hänlein immer wieder im Kontrast zur Steinzeitwelt auftauchen. Bei der Verzahnung der Zeitebenen gab es bei der Premiere am Freitag noch etwas Leerlauf. Besseres Wetter und Spielroutine dürften da aber ein Übriges tun.
Um die Steinzeitwelt und die „Rulaman“-Geschichte in den Griff zu bekommen, wendet Stephan Hänlein noch einen weiteren Kunstgriff an. Er beginnt mit der Schlussphase des Romans. Die Aimats sind mittlerweile von den Kalats vernichtet worden.
Rulaman lebt allein mit seiner Urahne Parre. Er hat zunächst jede Erinnerung verloren und wird von Parre an frühere Ereignisse erinnert, die nun erzählt oder an die Felswand projiziert werden. Auch mit dem Druiden der Kalats gibt es lange Gespräche. Für den Mangel an Aktionen werden die Zuschauer durch wunderschöne Bilder versöhnt: Ein Wasserfall strömt den Felsen herab oder der Wald „brennt“ in der ganzen Weite des Steinbruchs. Regisseur Jens Nüßle nutzt die Möglichkeiten der Naturkulisse. So verkündet etwa die Parre ihre Botschaften aus verschiedenen Nischen des Felsens. Am Schluss steht sie ganz oben an der Felskante über dem Druiden, um ihn dann mit in den Tod zu reißen.
In den Gesprächen geht es um das Altsteinzeitleben der Aimats und dem der Kalats, der Kelten, die sesshaft sind, Landbau betreiben und aus Metall Waffen und Schmuck herstellen können. Diese beiden Welten lässt „Rulaman“-Autor Weinland gewaltsam aufeinanderprallen. Er ist dabei vom sozialdarwinistischen Zeitgeist und von seinen Erfahrungen aus Amerika geprägt, wo die indianische Kultur vernichtet wurde.
Der Bearbeiter Stephan Hänlein setzt allerdings einen versöhnlichen Schluss, der der Geschichte der Menschheit näher kommt: Die beiden Kulturen verschmelzen, Rulaman wird Fürst bei den Kelten, bewahrt aber seine edlen Tugenden als Aimat. Als seine Braut taucht nun plötzlich die Charlotte der Neuzeit auf, die sich in die vergangene Zeit hineingezaubert hat.
Natürlich erzählen die Figuren nicht nur, verstärkt durch Kopfmikrofone, sondern spielen auch. So gibt Matthias Jentsch einen nachdenklichen und den Blick meist nach unten gesenkten Rulaman, die junge Marilena Pinetti überzeugt als die alte Seherin Parre in Stimme und Bewegung.
Jens Nüßle selbst ist in filmischen Fantasiegestalten zu sehen. Ganz konkret verkörpert er außerdem den Druiden und flößt mit seinem wallenden weißen Haupthaar und seiner schneidenden Stimme gewaltigen Respekt ein. Melanie Walz als Charlotte und Michael Minich als Max, die modernen Menschen, dürfen am meisten Umtrieb veranstalten.
Der Schauplatz im Steinbruch am Naturschutzzentrum passt übrigens auch mit Blick auf die Biografie des „Rulaman“-Autors. David Friedrich Weinland hat als Sohn eines Pfarrers seine Kindheit in Grabenstetten verbracht. Er besuchte die Lateinschule in Nürtingen, das Seminar in Maulbronn und studierte Theologie in Tübingen. Statt Pfarrer wurde er jedoch ein leidenschaftlicher, vom Darwinismus geprägter Naturwissenschaftler und reiste in verschiedenen Forschungsaufträgen in der Welt herum. Ein Halsleiden zwang ihn zur Sesshaftigkeit in Esslingen und Hohenwittlingen. Dort verfasste er neben wissenschaftlichen Arbeiten den „Rulaman“. Die Höhlen in unmittelbarer Nachbarschaft hatten Weinland dazu angeregt, eine Fantasiereise in die Steinzeit zu unternehmen. Ursprünglich war der 1878 erschienene Jugendroman „Rulaman“ nur für die vier Söhne des Autors bestimmt.
INFO
Es finden noch zehn weitere Vorstellungen des Freiluft-„Rulamans“ statt, die letzte am 29. September. Karten gibt es noch für fünf Vorstellungen. Bei schönem Wetter werden wenige Karten für nicht überdachte Plätze an der Abendkasse verkauft. Weitere Infos unter www.theaterspinnerei.de.