Waltraud Riemer führt durch ihre Heimatorte Notzingen und Wellingen und zeigt ein „Ein Dorf im Wandel der Zeit“
Ein „Himmelreich“ für zwei Dörfer

Notzingen. Es ist einer dieser unglaublich schönen und warmen Tage in diesem Frühjahr, an dem Waltraud Riemer zur Erkundung ihres Dorfes einlädt. Ein Dorf? Nein! Es sind zwei: Notzingen und Wellingen.


Iris Häfner

Und Waltraud Riemer ist geradezu prädestiniert, beide Dörfer zu repräsentieren. In Wellingen geboren, lebt sie heute bestens integriert in Notzingen. „Eine Hausgeburt war damals was völlig Normales“, erzählt sie der bunt zusammengewürfelten Gruppe, die sich für das „Dorf im Wandel der Zeit“ – so der Titel, der von der Kirchheimer Volkshochschule angebotenen Führung – interessiert.

Im Laufe der Zeit sind Notzingen und Wellingen zusammengewachsen und Auswärtige müssen schon genau hinschauen, um das unscheinbare Schild beim Friedhof an der Ortsdurchfahrt Richtung Rosswälden mit der Aufschrift Wellingen zu entdecken, und mancher „Reigschmeckte“ kann oder will die heute noch üblichen Kabbeleien der Ureinwohner nicht verstehen. Die sind davon gänzlich unbeeindruckt und frönen nicht nur bei Festen diesem freundschaftlichen Schlagabtausch. Der interessiert Waltraud Riemer an diesem Nachmittag jedoch herzlich wenig, auch wenn sie von ihrer Schulkameradin hin und wieder verbessert wird, wenn der Name Notzingen fällt, wo doch eigentlich Wellingen gemeint ist.

Treffpunkt des informativen Nachmittags ist die Arche, einstmals das Gasthaus Hirsch, in dem der verstorbene Werner Niefer, von 1989 bis 1993 Vorstandsvorsitzender der Mercedes-Benz AG, groß wurde. Allein dieses Beispiel verdeutlicht anschaulich den Wandel: vom Handwerker- und Bauerndorf zum Schlaf- und Wohnort mit Gewerbegebieten. „Bis zum 19. Jahrhundert waren Notzingen und Wellingen reine Bauerndörfer. Heute gibt es noch sechs landwirtschaftliche Betriebe, davon zwei im Haupterwerb. Auch die Schäferei war stark vertreten. Heute gibt es nur noch eine in Wellingen mit einem weiteren Standbein in Unterböhringen“, erzählt Waltraud Riemer. Vor der Industrialisierung standen bei 27 Webern zwischen 30 und 40 Webstühlen. „Das hörte dann schnell auf, als in Kirchheim die Firmen Kolb & Schüle oder J. J. Müller gegründet wurden“, so die Notzingerin. Zunächst gingen die Arbeiter zu Fuß „über den Buckel“, später wurden sie dann abgeholt.

Die Bevölkerungsentwicklung zeigt auch deutliche Veränderungen. Lebten 1848 in Notzingen 903 und in Wellingen 338 Menschen – nach dem 30-jährigen Krieg gerade noch 74 –, waren es nach dem Krieg nicht zuletzt wegen der Flüchtlinge bereits 1 600 – heute zählt die Statistik 3 574. „Vor allem aus Bessarabien, Ungarn, dem Sudetenland und aus dem heutigen Litauen kamen die Flüchtlinge hierher“, weiß Waltraud Riemer.

Der Arche etwa hundert Meter gegenüber steht das 1839 erbaute Schul- und Rathaus, in dem heute eine Gaststätte untergebracht ist. „Bis 1956 war hier Schulbetrieb. Es gab eine Arrestzelle, oben die Schulmeisterwohnung und der Kirchhof war unser Pausenhof“, verdeutlicht die Gästeführerin die pragmatische Einstellung der Dorfbewohner. Wellingen hatte ebenfalls eine Schule, heute steht dort das Bürgerhaus. Dort wurden nach dem Krieg die Klassen fünf und sechs unterrichtet, alle anderen in Notzingen.

Während Notzingen erst 1924 ein Wasserleitungsnetz in Betrieb nehmen konnte, war dies in Wellingen schon 1904 der Fall. „Gemeinsam mit Rosswälden wurde damals im Köhler die Quelle gefasst“, so Waltraud Riemer. Den Notzingern standen drei öffentliche Brunnen zur Verfügung. „Meist mussten die Kinder das Wasser von dort holen. Im Winter war das ein Spaß, da gab es eine Schleifeze, sprich Glatteis“, erzählt sie vergnügt, ebenso vom Bodenbach, dessen Wasser im Sommer vor allem eine stinkende Kloake war. „Uns Kinder hat‘s gefreut, wenn der Schlamm zwischen den Zehen durchkroch.“

Ein Besuch im Backhaus darf in Notzingen natürlich nicht fehlen, schließlich hat das Dätscherfest die Bodenbachgemeinde weit über die Dorfgrenzen hinaus bekannt gemacht. Diese schwäbische Variation des Flammkuchens wird an den beiden Festtagen massenhaft produziert, das Jahr über werden jedoch hauptsächlich Brotlaibe gebacken – und nach denen duftet es noch herrlich an diesem Nachmittag, auch wenn von den Backfrauen nichts mehr zu sehen ist. Früher hatten die Hausfrauen nur in den öffentlichen Backhäusern die Möglichkeit zum Backen. „Vor allem vor der Kirbe war der Andrang groß. Wer ein schlechtes Los gezogen hatte, musste schon am Mittwoch seine Kuchen backen. Bis Sonntag waren sie dann recht altbacken“, zeigt Waltraud Riemer die Nachteile auf.

Die benachbarte Kelter ist heute ein Restaurant. Der Weinbau wurde bereits 1885 wegen der Reblaus eingestellt und durch den Obstbau ersetzt, wie die Streuobstwiesen rund um den Ort verdeutlichen, die heute hauptsächlich von Älteren gepflegt werden. Bevor das historische Gebäude 2001 zur Gaststätte umgebaut wurde, wurde es unter anderem als Turnraum, Gemeinschaftstiefkühlanlage, Lagerraum oder Feuerwehrmagazin genutzt.

Weiter geht es vom Kelterplatz Richtung Wellingen. „Jetzt sind wir bald bei der Koreasiedlung“, sagt Waltraud Riemer und verrät die Namensgebung. Hier wurden in den 1950er-Jahren die Flüchtlinge angesiedelt und der Koreakrieg war in aller Munde. „Es waren alles Nebenerwerbshäuser, für die es Zuschüsse vom Land gab. Viele hatten Ziegen, Geflügel oder ein Schwein.“ Weiter bergauf geht es vorbei an der Grundschule sowie an Festhalle und Sporthalle, die allesamt zentral in der entstandenen Dorfmitte zwischen Notzingen und Wellingen liegen. Ein Stück weiter oben, Richtung Hochdorf, erinnern Soldatengräber an die letzten Kriegstage im April 1945, wobei es im Ort selbst zu keinen Kriegsschäden kam. „Die Gefallenen sind mittlerweile alle umgebettet in ihre Heimorte“, sagt Waltraud Riemer.

Das Kirchle ist 
Wellingens
Schmuckstück

In unmittelbarer Nachbarschaft stand das 1924 erbaute und 1960 abgebrochene Naturfreundehaus, ein beliebter Treffpunkt der Jugend, auch aus Hochdorf. Weil dort regelmäßig viel los war, hieß der Platz auch „Schnäddere“. In dem kleinen Blockhaus lebte nach dem Krieg eine Flüchtlingsfamilie bis 1959 mit acht Kindern ohne Strom- und Wasseranschluss. Von hier hat die Gruppe einen herrlichen Blick über das „Himmelreich“, ein Wiesental, mit den drei Kaiserbergen im Hintergrund. Über die Rechbergstraße und den Hohenstaufenblick steuert man geradewegs auf das Bürgerhaus zu. Das Vorgängergebäude beherbergte einen Schulraum und die Feuerwehr und auch eine Steppdeckenfabrik.

„Kommet no“, wird die Gruppe freundlich von einer fleißigen Wellingerin begrüßt. Vor dem Kirchle hat sie sich der Beete angenommen und mit den Frühjahrsarbeiten begonnen. Alle machen es sich auf den Bänken rund um die neu gepflanzte Linde bequem, und Waltraud Riemer fängt zu erzählen an. „Des isch onser Kirchle, onser Schmuckstück“, sagt sie voller Stolz. Von der Sankt-Georgs-Kirche, die vor dem Dreißigjährigen Krieg existierte, ist nur noch der Turm übrig geblieben. In dem befindet sich ein kleines Heimatmuseum, dessen Türen beim jährlichen Kirchlesfest im Sommer und am Konfirmationstag jedem offen stehen, ansonsten „muss man sich beim Albert anmelden“. Weil zwar die Uhr, nicht aber das Schlagwerk an die Elektrik angeschlossen ist, zieht Albert Schanbacher bis heute täglich von Hand die Glocken auf. Eine weitere Besonderheit ist das Wellinger Backhaus, das statt des Kirchenschiffs an den Turm angebaut ist.

Nun bekommen die Spaziergänger die Geschichte der Franzosenstecherin – neben dem Köhler die Figur der Narrenzunft Gesinde Schleichingen – zu hören. Ende des 17. Jahrhunderts waren Franzoseneinfälle keine Seltenheit. Ein Trupp kam zum Plündern nach Wellingen und fand nur ein altes Weible vor, da die meisten Dorfbewohner auf den Feldern arbeiteten. Die Frau leistete jedoch erbitterten Widerstand und erstach einen der Soldaten mit der Mistgabel. Dies beeindruckte die restlichen Franzosen dermaßen, dass sie unverrichteter Dinge wieder abzogen. „Diese Geschichte hat sich tatsächlich so zugetragen“, fügt Waltraud Riemer ob des einen oder anderen ungläubigen Gesichtsausdrucks an, und die Zuhörer erfahren weiter, woher die Narrenzunft ihren Namen hat. Bis zum Dreißigjährigen Krieg gab es im Tal zwischen Rosswälden und Schlier­bach den Ort Schleichingen. „Dort in der Nähe befindet sich auch der Kraftsberg, bei dem es sich um einen Vulkanpfropfen handelt“, streift Waltraud Riemer kurz die Geologie.

Jetzt ist sie richtig in Fahrt, erzählt von den Heuferien, die die Kinder auch noch nach dem Krieg im Sommer bekamen, da die Bauern auf jede Hand angewiesen waren, oder von der Hebamme, die bei jedem Besuch zuerst ein Glas Most bekam. „Essen auf Räder gab schon früher“, sagt die Wellingerin. Den Dienst hatte der Adlerwirt übernommen. Für ihre in Kirchheim arbeitenden Männer bereiteten die Frauen das Essen zu und füllten es in Schüsseln, um es dann zum Adler zu bringen. Der Wirt fuhr dann mit Pferd und Wagen gen Teckstadt. Hatte er schwere Last zu transportieren, spannte er noch ein drittes Tier vor, um „den Buckel“ besser meistern zu können. Oben angekommen, schirrte er das Pferd aus und schickte es heim.

Es wird kühler, und die Gruppe begibt sich wieder hinunter nach Notzingen, vorbei an Friedhof und Rathaus, in dem jetzt das Magazin der Feuerwehr untergebracht ist. Den letzten Halt gibt es bei der Zehntscheuer. „Dabei soll es sich um das älteste Gebäude in Notzingen handeln“, sagt Waltraud Riemer. Von allem den zehnten Teil musste die Bevölkerung abliefern, egal ob Eier, Heu oder Getreide. Wurde die Scheuer in jüngster Vergangenheit als Heulager genutzt, lagern heute Vereine ihre Utensilien darin, vor allem Marktstände für den Weihnachtsmarkt und Krähle fürs Dätscherfest. Hier streift die Gästeführerin auch kurz die Geschichte der Gemeinde. Burg Thumnau beherbergte dereinst den niederen Adel. Einmal gehörte Notzingen zur Kartause Gürterstein, dann zum Kloster Kirchheim, den Zähringern und Württembergern, den Herzögen von Teck und auch die Herren von Neidlingen hatten eine Zeit lang das Sagen. „Stetiger Wechsel“, kommentiert Waltraud Riemer lapidar.

„Notzingen kennt man eigentlich nur vom Durchfahren und weiß nichts darüber. Das fand ich sehr schade und dachte: Da könnten wir mal eine Ortsführungen anbieten“, sagt Susanne Voigt, Leiterin der Volkshochschule Kirchheim, die bei dem Spaziergang ebenfalls mit von der Partie ist. Sie und die Mitwanderer kennen das Dorf nun deutlich besser – auch dank der fachkundigen Einheimischen, die ebenfalls neugierig waren, noch etwas Neues zu erfahren.