Esslingen. Die Gitter vor den kleinen Fenstern sind mit Vorhängen zugehängt. Mancher traumatisierte Flüchtling, der in die Kleiderkammer der Arbeiterwohlfahrt (AWO)
kommt, könnte den Anblick blanker Gitter nicht ertragen. Sechs Frauen betreuen die Einrichtung im Keller der staatlichen Gemeinschaftsunterkunft in der Rennstraße. Sie tun es ehrenamtlich und mit sehr viel Erfahrung.
Hilde Beck schaut in ihre Aufzeichnungen: 42 Frauen haben sich an einem Mittwochnachmittag mit Kleidung versorgt. Bei jedem Namen steht eine Uhrzeit, nach 20 bis 25 Minuten sind die Nächsten dran. Die gespendete Kleidung wird kostenlos abgegeben, allerdings nicht unkontrolliert. Jeder muss seinen Ausweis zeigen, jeder hat eine Liste, in die alle mitgenommenen Artikel eingetragen werden. „Wenn jemand mit vier Kindern acht Paar Söckchen mitnimmt, ist das in Ordnung“, sagt Beck. Gehortet werden darf aber nicht. Und die Sachen müssen aktuell tatsächlich passen. Die Ausgabe an den Mittwochnachmittagen wechselt: Mal sind Kindersachen, dann Frauen, dann Männer dran. Damit sich nicht immer die Starken vordrängen, wird ausgelost: Aus einem Säckchen zieht jeder der Wartenden eine Nummer. Die Hausbewohner haben Vorrang, doch manche kommen aus dem Lenninger Tal her.
Mittwochs von 14 bis 18 Uhr werden auch Spenden angenommen. Jeder Sack oder Karton ist eine Überraschung. „Das glaubt kein Mensch, wenn man es nicht sieht“, sagt Beck. Ein paar besonders schmutzige Teile hat sie fotografiert. Am liebsten ist es ihr, wenn sie bei einer Wohnungsauflösung vor Ort nachsehen kann, was sich für die Kleiderkammer eignet. Auch Elisabeth Gschwendtner ist zu diesem Zweck unterwegs. Beck, Gschwendtner und Irene Thur bilden den Kern des Teams, dazu kommen Christl Veser, Doris Nausner und Gisela Scholl-Ziegler.
„Als 1992 in die frühere Funkerkaserne Asylbewerber einziehen sollten, stand das Wohngebiet Kopf“, erinnert sich Beck. „Da haben wir in der evangelischen Kirchengemeinde Sankt Bernhardt den Freundeskreis Asyl gegründet.“ So entstand in der Funkerkaserne die erste Kleiderkammer. „Unser Netzwerk ist gewaltig“, sagt Beck, Organistin und frühere Kirchengemeinderätin.
Heute gibt es in der Rennstraße zwei Kellerräume: einen für Frauen- und Kinderkleidung, einen für Männer. Vor einigen Jahren brannte die Kleiderkammer für Männer, damals noch außerhalb in der Zeppelinstraße gelegen, völlig aus. Weil alle anderen in den Sommerferien waren, übernahm Gschwendtner den Neuaufbau ganz alleine. Die Spenden füllten damals eine ganze Garage.
Aussortiert wird mit geschultem Blick. „Wir wollen alles weitergeben können, ohne rot zu werden“, sagt Beck. Nähen, stopfen, waschen und bügeln können die engagierten Frauen nicht auch noch, die Kinderstrumpfhose mit Riss muss deshalb zu den Lumpen. Andere Kleidung ist zwar schön, passt aber nicht zur Zielgruppe. Das gilt für den ziemlich kurzen Rock, den Gschwendtner gerade aus einem Stapel zieht. „Eine Muslima würde ihn nicht tragen.“ Er wird an den Diakonieladen weitergegeben. Auch die Klamottenkiste von „Bürger für Berber“ bekommt überzählige Stücke. Über besonders ausgefallene Teile freut sich eine Theatergruppe.
Was fehlt? „Sportschuhe für Männer, Größe 41 bis 44 und modische Kleidung für schmächtige Männer“, sagt Beck. Großvaters Hochzeitsanzug sei eher weniger gefragt. Einst bekam die Kleiderkammer originalverpackte Ware aus einem aufgelösten Tante-Emma-Laden. Doch die war Jahrzehnte alt, Papierkleidung für Verstorbene inklusive.
Saubere, waschbare Betten und Kissen sind ebenfalls willkommen. „Das ist für Leute, die eine Wohnung bekommen“, sagt Gschwendtner. Solche Menschen brauchen natürlich noch mehr, deshalb werden genauso Wasserkocher, Staubsauger, Toaster, Handmixer, Fön, Thermoskannen und Besteck angenommen. „Wir brauchen alles, was in einen Schrank reinpasst.“ Auch große Kochtöpfe: „Die Flüchtlinge sind sehr gastfreundliche Leute.“ Einen neuen Gastgeber bräuchten auch die sechs Damen, denn sie verlieren ihren kostenlosen externen Lagerraum. „Ein ebenerdiger, trockener und abschließbarer Schuppen oder eine Garage, möglichst in der Nähe“, beschreibt Beck ihren großen Wunsch.
Nach ihrem Motto muss man die sechs Frauen nicht lange fragen. Sie haben ein gespendetes T-Shirt an die Wand gehängt und würden es niemals hergeben. „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht darauf, Artikel 1 des Grundgesetzes.
Weitere Informationen gibt es bei Hilde Beck, Telefon 07 11/35 68 92, und Elisabeth Gschwendtner, Telefon 07 11/37 25 61