Man kann nicht sagen, dass Michael Geißler, der medizinische Direktor des Esslinger Klinikums, in diesen Tagen wenig zu tun hätte. Trotzdem hat er sich die Zeit für ein Interview zur Corona-Krise genommen. Der Sohn des früheren Politikers Heiner Geißler gilt nicht nur als Koryphäe in der Tumorbehandlung, er ist auch ein international anerkannter Experte für Infektionskrankheiten. Geißler, der am Klinikum Chef der Onkologie und Inneren Medizin ist, wechselt demnächst ans deutlich größere Klinikum nach Karlsruhe, wo er künftig als medizinischer Geschäftsführer tätig sein wird.
Im Kreis Esslingen gibt es die ersten Corona-Infizierten - auch an der Hochschule, an einer Berufsschule und am Klinikum. Was bedeutet das für Esslingen?
Michael Geißler: Daran ist nichts Besonderes. Es war zu erwarten. Der Landkreis Esslingen gehört mit 16 nachgewiesenen Fällen zusammen mit Heilbronn zu den Spitzenreitern in Baden-Württemberg.
Gibt es dafür einen Grund?
Geißler: Nein, das ist wohl reiner Zufall. Offenbar waren viele Leute aus der Region in den Faschingsferien zum Skifahren in Südtirol. In Südtirol wurden wohl aus wirtschaftlichen Gründen aufgrund der Bedeutung des Tourismus bisher kaum Tests durchgeführt, deswegen die Diskrepanz von wenigen vor Ort diagnostizierten Fällen und vielen positiven Tests von Touristen aus Deutschland. Das gilt es sehr kritisch zu hinterfragen.
Wie sollten die Führungsstäbe der Schule und der Hochschule am besten darauf reagieren, um weitere Ansteckungen zu vermeiden?
Es gibt von den Gesundheitsbehörden detaillierte Empfehlungen, die sich wiederum auf die Erkenntnisse und Richtlinien des Robert-Koch-Instituts stützen. Umsetzen muss das die jeweilige Leitung vor Ort. Bei nachgewiesenem Kontakt mit infizierten Personen wird für eine bestimmte Zeit Quarantäne empfohlen. Allerdings sind die Kontakte und ihre genauen Umstände schwer zu evaluieren. Man kann die jeweiligen Klassen nach Hause schicken, und wenn es die Umstände erfordern, müssen Schulen oder Kindergärten auch ganz geschlossen werden. Das muss man aber immer von Fall zu Fall entscheiden. Erschwerend kommt hinzu, dass wir seit einigen Tagen wissen, dass Kinder genauso wie Erwachsene durch das Virus infiziert werden, aber kaum oder gar keine Symptome zeigen, sie sind also ideale Überträger des Virus, an den Robert-Koch-Kriterien vorbei.
Kommt irgendwann der Zeitpunkt, an dem man die Ausbreitung des Virus gar nicht mehr verhindern kann?
Ja, das kann passieren. Die Wahrscheinlichkeit liegt nach meiner Einschätzung bei über 50 Prozent. Wann, kann aber niemand sagen.
Was passiert dann?
Noch sind wir in der sogenannten Containment-Phase (englisch für Eindämmung). Da geht es darum, die Ausbreitung zu verhindern oder zumindest zu verzögern, um Zeit zu gewinnen. Wenn das nicht mehr funktioniert, weil sich zu viele Menschen angesteckt haben, treten wir in die Protection-Phase (Schutz) ein. Dann kommt es zu einem Strategiewechsel: Es werden keine Abstriche mehr gemacht, um festzustellen, wer sich infiziert hat. Weitere Anstrengungen, um die Epidemie einzudämmen, wären dann sinnlos. Stattdessen legt man den Fokus darauf, die Risikogruppen zu schützen und zu versorgen: Kranke, Hochbetagte, Pflegefälle. Dann werden auch die Krankenhäuser stark belastet werden.
Man schätzt, dass sich in dem Fall 50 bis 70 Prozent der Bevölkerung mit dem Coronavirus anstecken könnten. Und dann?
Das ist nicht schlimm. Dann leben wir damit wie mit dem Influenza-Virus. Gesunde Menschen brauchen keine Angst zu haben. In den allermeisten Fällen ist der Verlauf harmlos.
Aber die Mortalitätsrate liegt doch deutlich über der des Influenza-Virus.
In der Tat. Beim Coronavirus liegt diese wahrscheinlich bei zwei bis drei Prozent. Diese Zahl gilt aber vor allem für China. In Europa scheint die Rate mit Ausnahme Italien etwas niedriger zu liegen. Noch wissen wir nicht, ob die Europäer genauso auf das Virus reagieren wie die Chinesen. Zudem muss man davon ausgehen, dass es eine hohe Dunkelziffer gibt. Das sind diejenigen, die gar nicht merken, dass sie sich angesteckt haben, weil sie keine Symptome haben. Die tatsächliche Mortalitätsrate dürfte also deutlich niedriger liegen. Und noch einmal: Gefährdet sind vor allem Menschen mit Vorerkrankungen.
Italien riegelt große Gebiete komplett ab. Alle Schulen und Universitäten wurden geschlossen, öffentliche Veranstaltungen werden abgesagt, der Profifußball spielt in leeren Stadien. Ist das der richtige Weg?
Darüber kann man streiten. Der italienische Weg ist radikal, noch restriktiver bekämpft China die Ausbreitung. Ich halte das für übertrieben beziehungsweise nicht gut umgesetzt, zumal aktuell wichtige Regionen wie Südtirol wohl aus ökonomischen Gründen ausgelassen werden. Aber in Italien gibt es im Gegensatz zu Deutschland viele Tote. Wenn sich das in Deutschland ändern sollte, wird auch bei uns der Druck steigen, radikaler gegen die Ausbreitung vorzugehen.
Wie schützen Sie sich vor dem Virus?
Im privaten Bereich und zu Hause gibt es keine besonderen Vorkehrungen. Außer: Ich achte darauf, die Hände mehrmals am Tag gründlich zu waschen, und zwar mit Seife. Und ich gebe anderen Leuten nicht die Hand. Das sollte man unterlassen. Und zwar immer! Daher kann ich nur den Kopf schütteln, wenn Politiker sich hinstellen und sagen, sie würden andere weiterhin mit Handschlag begrüßen und dass es wichtiger sei, wenn man Sport treibe und sich gesund ernähre. Das ist Blödsinn.
Kein Mundschutz, keine Desinfektionsmittel?
Das ist für Mediziner und Pflegepersonal, die in Risikobereichen arbeiten. Für alle anderen ist das überflüssig. Es bringt nichts.
Was ist mit dem Besuch von Massenveranstaltungen? Mit Flugreisen?
Ich halte das nicht für besonders riskant für den Einzelnen. Meiden sollten dies Menschen, die man zur Risikogruppe zählt. Also alte Menschen, Pflegebedürftige, Leute mit Vorerkrankungen. Um gesunde Menschen muss man sich nicht sorgen. Solange aber die Containment-Phase besteht, ist hier eine Begrenzung sinnvoll. Mir erschließt sich allerdings nicht, warum Messen abgesagt werden, Fußballspiele aber stattfinden. Ist das wieder das Primat der Ökonomie?
Wie kommt unser Gesundheitssystem bislang mit der Corona-Krise zurecht?
Bis jetzt haben wir das ganz gut im Griff. Wir müssen aber aufpassen, dass wir vor allem die Kliniken nicht überlasten. Daher ist es richtig, die Ausbreitung zu verlangsamen und Zeit zu gewinnen. Auch deshalb, weil die Influenza-Saison noch einige Wochen dauert. Eine doppelte Ansteckung ist auch für gesunde Menschen hoch problematisch.
In Supermärkten sind die Regale leer, für Mundschutz bezahlt man im Netz Mondpreise, und in Kliniktoiletten werden die Spender mit Desinfektionsmitteln geplündert. Ist das Hysterie?
Ich habe Verständnis, dass sich die Leute ängstigen. Aber Hamsterkäufe sind absoluter Unsinn. Die meisten Lebensmittel werden verderben. Weniger harmlos ist es, Atemschutzmasken zu horten. Die fehlen dann denen, die sie wirklich brauchen, Arztpraxen zum Beispiel. Und was soll ich dazu sagen, dass in Krankenhäusern Desinfektionsmittel gestohlen werden? Das ist in höchstem Grade asozial. Trotzdem würde ich nicht von einer Hysterie sprechen. Sagen wir mal so: Das Land ist in einem prähysterischen Zustand.
Wenn selbst namhafte Experten mit Zahlen wie 250 000 möglichen Corona-Opfern in Deutschland um sich werfen, muss man sich nicht darüber wundern, dass sich Panik breitmacht, oder?
Sie haben recht. So etwas ist kontraproduktiv. Darüber kann man in wissenschaftlichen Kreisen und in Krisenstäben hinter den Kulissen reden. Zumal solche Zahlen reine Spekulation sind.
Wie lange wird es dauern, bis ein Impfstoff entwickelt ist?
Den wird es in diesem Jahr nicht mehr geben. Allerdings rechne ich damit, dass man in den nächsten zwei, drei Monaten Medikamente getestet haben wird, mit denen man hoffentlich die schweren Krankheitsverläufe wirksam bekämpfen kann.
Hat Sie die Covid-19-Epidemie eigentlich überrascht?
Nein, überhaupt nicht. Damit musste man rechnen. Es war nur eine Frage der Zeit.