Kirchheim. Kirchheim kann sich nicht mit allzu vielen Poeten schmücken. Doch der Schatz, der vorhanden ist, wird im Literaturmuseum,
beheimatet im Max-Eyth-Haus, liebevoll gepflegt. Ein geschmackvoll eingerichteter Raum informiert dort über Hans Bethge. Bethge gehörte einst zu den allgemein bekannten, in Künstlerkreisen gut vernetzten Schriftstellern. Heute scheint er im literarischen Leben keine Rolle mehr zu spielen. Deshalb wollte der Literaturbeirat in Zusammenarbeit mit dem vhs-Kulturring in einer sonntäglichen Lesung wieder einmal an diesen Poeten erinnern.
Als Vorbereitung gab der Germanist Bernd Löffler eine Einführung in Leben und Werk Bethges. Er ist wie kein anderer zu dieser Aufgabe berufen, hat er es sich doch schon in verschiedenen Publikationen zur Aufgabe gemacht, die Erinnerung an diesen Schriftsteller mit dem Bezug zu Kirchheim wachzuhalten.
Bethge wurde 1876 in Dessau geboren. Nach dem Tod des Vaters zog er mit seiner Familie nach Berlin um, wo er bis 1943 lebte, bis die Bombenangriffe ihn vertrieben. Er floh dorthin, wo jetzt seiner gedacht wird, nach Kirchheim. Dort lebte er in einem Zimmer in der Paradiesstraße. Wegen einer Knochentuberkulose wurde er ins Göppinger Kreiskrankenhaus eingeliefert, wo er Anfang 1946 starb. Begraben wurde er auf dem Herdfeld-Friedhof, dem Alten Friedhof. Heute kann man dort seine Grabplatte und eine von der Stadt gepflegte Gedenkstätte finden.
Nach Kirchheim kam Bethge auf Initiative von Hans Geiser, Besitzer eines Kaufhauses in einem repräsentativen Gebäude (vormals Betten-Räpple, jetzt BW-Bank). Geiser war von Bethges Dichtung angetan. Der Zufall führte die beiden Junggesellen 1919 zusammen. Es entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft mit gemeinsamen Reisen und einigen Besuchen Bethges in Kirchheim. Bethge wanderte gerne auf der Alb und genoss die Natur und ihre Produkte. Der fünfzehn Jahre jüngere Geiser kümmerte sich auch nach dem Tod seines Freundes um den Nachlass und den Nachruhm. Er war, wie Bernd Löffler formulierte, „der Treueste der Treuen“.
Bethge führte das Leben eines freien Schriftstellers. Verdient hat er als Herausgeber niveauvoller und erstaunlich erfolgreicher Lyrikanthologien. Seinen Durchbruch als eigenständiger Schriftsteller schaffte er nach neoromantischen Anfängen mit Nachdichtungen chinesischer Lyrik. „Die chinesische Flöte“ wurde 1907 ein großer Erfolg. Seine Texte haben, so Löffler, „den Nerv der Zeit getroffen“. Danach erschienen in rascher Folge noch weitere Bände mit Nachdichtungen östlicher Lyrik.
Ob die Verse auch heute noch den Nerv der Zeit treffen, musste sich in der Präsentation der Sprecherin Luise Wunderlich und des Flötisten Johannes Hustedt zeigen. Luise Wunderlich hat ein umfangreiches Programm von Bethge-Texten zusammengestellt. Sie konnte dabei auf eine Reihe von zwölf Bänden zurückgreifen, die seit 2004 im Yin Yang Media Verlag erschienen sind. Das ist eine frohe Kunde für das literarische Leben Kirchheims. Bethge ist nicht nur ein Museumsgegenstand, sondern in ästhetisch schönen Bänden dieses Verlages greifbar, der von einer einzigen Frau umgetrieben wird. Aus fünf Bänden hatte die Künstlerin Nachdichtungen ausgewählt, neben chinesischer noch asiatische, japanische, arabische, indische und armenische Lyrik.
Bei dieser Fülle war Reichhaltigkeit der Themen garantiert. Die Gedichte handeln von der Natur und ihren Jahreszeiten, von Jugend und Alter, von Kummer und Glück. Vor allem aber handeln sie von der Freude und dem Leid der Liebe. Man staunt, dass es zum Beispiel in einer Gedichtsammlung, die rund tausend Jahre vor Christi Geburt entstanden ist, Motive gab, die in der abendländischen Lyrik viel später auftauchen, wie die Klage der Liebenden über das Ende der Nacht oder die selbstbewusste Aussage, dass nur der Dichter Bleibendes schafft. Dabei wird man sich wieder bewusst, dass das „Licht“ der Kultur vom Osten her kam.
Bei den Gedichten Bethges scheiden sich die Geister. Entweder man lehnt ihn mit dem ganzen Jugendstil ab, weil die Schönheit der Kunst mit der Flucht vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit erkauft wird. Walter Benjamin, der vom Marxismus geprägte Essayist, nennt die Texte schön aufgemacht, aber „trostlos“. Oder man gibt sich dem poetischen Schmelz der Verse hin, dem Rhythmus und dem Reichtum der Metaphern. Es ist erstaunlich, was Bethge aus seinem „Rohmaterial“ gemacht hat. Er beherrschte keine der Originalsprachen, sondern griff auf Übersetzungen zurück und formte sie in eigenständiger Weise um. Das Ergebnis ist so ansprechend, dass es unglaublich viele Komponisten reizte, diese Nachdichtungen zu vertonen.
Die Musikalität der Texte bildete auch die Grundlage für die Darbietung im Kornhaus. Vom ersten Moment ihres Auftritts schufen die beiden Künstler im erfreulich dicht besetzten Kornhaussaal eine feierliche Atmosphäre. Flötentöne aus der Ferne bereiteten die Stimmung vor für die poetischen Verse mit dem programmatischen Titel „Die geheimnisvolle Flöte“, die Luise Wunderlich rezitierte. Partner Johannes Hustedt ist ein Großmeister der Flötenkunst. Er beherrscht Flöten aus verschiedenen Materialien und verschiedenen Epochen. Zusammen mit allerlei orientalischen Klanginstrumenten ist er mit seiner Musik immer präsent, als Untermalung der Texte oder mit Intermezzi zwischen den Gedichteinheiten. So war für Abwechslung gesorgt, und der Genuss an der Textlesung wurde noch gesteigert.
Hoch konzentriert, vor ihrem Publikum stehend, modelliert die Sprechspezialistin die Texte so plastisch, dass sie geradezu aufblühen und jede Monotonie vermieden wird. Die Künstlerin nutzt auch alle Möglichkeiten erdverhafteter Komik. Schließlich schweben die Verse nicht nur in ästhetischen Höhen, sondern befassen sich auch mit irdischen Genüssen wie dem Alkohol. Der Kummer über den ungetreuen Freund („Der Abschied“) ist nicht das letzte Wort. Als Zugabe bringen Wunderlich und Hustedt noch das „Trinklied im Frühling“ mit dem Ausruf: „Was geht mich denn der Frühling an / Lasst mich betrunken sein!“
Die beiden letzten Lieder des Abends waren zwei von sechs Gedichten Bethges, die Gustav Mahler in seinem viel gepriesenen „Lied von der Erde“ verwendet hat. Allein diese Vertonung garantiert, dass der Poet Bethge nie ganz vergessen sein wird.