Dietlinde Ellsässer und Hans-Peter Weymüller verneigten sich gemeinsam vor Maria Beigs Erfolgsroman „Ein Lebensweg“
Einblicke in beschwerte Kindheitstage

Kirchheim. Um eine Schriftstellerin hautnah kennenzulernen, kann man ein Buch – oder die im Idealfall schon vorliegende Gesamtausgabe – lesen. Eine Alternative bietet das Hörbuchangebot. Wer sich angesichts sommerlicher Hitze lieber bedienen und verwöhnen lassen woll-

te, konnte sich am Freitagabend bequem zurücklehnen. „Heimat & Fremde“ lautet das Motto der interessanten dreiteiligen Sommerreihe der Stadtbücherei. Im Mittelpunkt stand am gelungenen Auftaktabend dabei weit mehr als „nur“ Maria Beigs Roman „Ein Lebensweg“.

Von Dietlinde Ellsässer erfuhren die Besucher Interessantes und Wissenswertes, über die ihr persönlich bekannte, 1920 bei Meckenbeuren geborene Autorin und das von ihr authentisch und holzschnittartig, aber zugleich auch detailliert porträtierte Leben auf dem Lande. Hans-Peter Weymüller setzte den mit viel Lokalkolorit gezeichneten Alltagsdramen vom Leben und Sterben im Oberschwäbischen auf seiner Gitarre zauberhafte iberische Klänge entgegen. Das Ergebnis war ein den Kontrast „Heimat & Ferne“ elegant zusammenbringender Abend eindrucksvoller Harmonie.

Von Büchereileiterin Ingrid Gaus begrüßt, machte die Schauspielerin, Kabarettistin, Regisseurin und Autorin Dietlinde Ellsässer sofort klar, wer den Ton angeben wird. Hans-Peter Weymüllers für den Einstieg in einen Reigen virtuoser Gitarrenmusik aus Südamerika, Spanien und Brasilien ausgewählte „Melonga“ war kaum verklungen, als Dietlinde Ellsässer schon erste Regieanweisungen gab.

Mit klaren Vorgaben inszenierte die Pragmatikerin dann auch den von ihr zum Programmteil gemachten Fototermin. Virtuose Gitarrenklänge und professionelles Blitzlichtgewitter endeten so fast zeitgleich und die unkonventionelle Darstellerin konnte ungestört wieder durchstarten.

Warum ihr Maria Beig so am Herzen liegt, blieb kein Geheimnis. Bei einer Lesung aus Maria Beigs Roman „Ein Lebensweg“ im Theater Lindenhof in Melchingen am Muttertag 2009 hatte Dietlinde Ellsässer die Autorin persönlich kennengelernt, die sie schon seit 1984 schätzt. Alles, was sie im Roman „Hochzeitslose“ gelesen hatte, kam ihr vertraut vor. Dietlinde Ellsässer war erstaunt, wie nah ihr diese Autorin plötzlich war, die altersmäßig ihre Mutter sein könnte. Schon als Kind hatte Maria Beig ein äußerst ausgeprägtes Gespür für zwischenmenschliche Beziehungen, emotionale Spannungen und gesellschaftspolitisch bedenkliche soziale Ungerechtigkeiten wie etwa das Schicksal der einst noch mit einem großen Makel behafteten „ledigen Frauen“.

Als Schwestern im Geiste stehen sie seither in regelmäßigem Kontakt: die selbstbewusste ungestüme Single-Frau und die sie fesselnde und faszinierende Geschichtenerzählerin, die es versteht, sich und ihre Leserschaft in die Perspektive ihrer Kindheitstage zu versetzen. Dietlinde Ellsässer fasziniert, mit welch erstaunlicher Authentizität und ganz eigener Sprache Maria Beig vermittelt, was sie erlebt, selbst durchlitten und in frühen Jahren verstanden, hinterfragt und doch auch erschreckend schicksalsergeben akzeptiert hat.

In emotionsloser Neutralität erzählt Maria Beig ihre unter die Haut gehenden und den nostalgisch verklärten Blick auf die angeblich so „gute alte Zeit“ mit naturalistischer Unbarmherzigkeit zerstörenden Geschichten. Ihre im Mikrokosmos von Senglingen verorteten „Begebenheiten“ gibt sie wieder, als hätte dieses harte, entbehrungsreiche und von schicksalhafter Ergebenheit geprägte Landleben überhaupt nichts mit der erfolgreichen Schriftstellerin zu tun, die sie inzwischen ist.

Erst mit fast 60 Jahren kam Maria Beig zum Schreiben, das für sie zur Sucht wurde. In immer neuen auf Erinnerungen basierenden Geschichten unternahm sie den Versuch, sich durch die Kraft ihrer Erzählungen von der Last und Bürde ihrer Kindheit zu befreien und durch die literarische Aufarbeitung ihres Lebens zu sich selbst zu finden.

Als sie einst erfuhr, dass ihr Vater im Sterben liegt, musste sie rechtzeitig dafür sorgen, dass sie und ihre Geschwister über passende Trauerkleidung verfügen. Sie änderte dafür alle Alltags- und Sonntagsanzüge des todgeweihten Vaters, der sie eines Tages auch noch bei ihren merkwürdigen Näharbeiten überraschte.

Die oberschwäbische Jane Austen setzt sich nicht mit den das gesellschaftliche Ranking bestimmenden „Matchmaking-Problemen“ englischer Mittelklasse-Aristokratinnen aus gutem Hause auseinander. Sie konzentriert sich vielmehr auf die Ängste der zum Heiraten und lebenslangen Schuften prädestinierten Mädchen aus kinderreichen schwäbischen Bauernfamilien. Das faszinierte auch ihren Bodensee-Nachbarn Martin Walser, der ihre Erstlinge „Rabenkrächzen“ und „Hochzeitslose“ durch seine begeisterten Nachworte adelte.

Er war es dann auch, der seinen Einfluss dafür geltend machte, dass der renommierte Suhrkamp-Verlag auf Maria Beig aufmerksam wurde und sie den Sprung in die literarische Oberliga mühelos schaffte. Ganz aus dem Häuschen ist Dietlinde Ellsässer offensichtlich noch immer darüber, dass das 1984 erschienene „Hermine - Ein Tierleben“ von Jaimy Gordon übersetzt wurde und daher seit 2005 auch „von allen Massachusettsern“ in dem ihnen geläufigen Idiom genossen werden kann.

Die für ihre einzigartige „Kunst der scheinbaren Kunstlosigkeit“ hochgelobte Maria Beig erhielt unter anderem 1983 den alemannischen Literaturpreis, 1990 die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg, 1996 den Literaturpreis der Stadt Stuttgart und 2004 den Johann-Peter-Hebel-Preis. Laudator Professor Dr. Peter Blickle von der Western Michigan University, zeigte sich bei der Verleihung damals uneingeschränkt überzeugt davon, dass Johann Peter Hebel an dieser Preisträgerin seine wahre Freude gehabt hätte. „Er hätte sie als durch ihre Literatur mit ihm Verwandte verstanden, als eine Schriftstellerin, deren Texte seine Sprache sprechen und deren Figuren aus seiner Welt kommen“.