Kirchheim. Die literarischen Begegnungen im Buchhaus Zimmermann haben eine lange Tradition und Rudolf Guckelsberger war schon oft gerne gesehener Gast in Kirchheim. Der jüngste Auftritt des Diplom-Theologen, Diplom-Sprechers und
Sprecherziehers wird aber zweifellos noch lange in ganz besonders guter Erinnerung bleiben. Das bei der Begrüßung von Sibylle Mockler versprochene „einmalige Live-Hörspiel“ überzeugte jedenfalls ohne Einschränkung.
Rudolf Guckelsberger beschränkte sich nicht darauf, Franz Werfels Hommage „Verdi – Roman der Oper“ nur in Auszügen zu lesen. Er erweckte vielmehr die von existenziellen Selbstzweifeln geplagte, fast tragische Figur des Giovanni Verdi, zu neuem Leben. Seit der „Aida“ (1871) und dem „Requiem“, mit dem Verdi sich 1874 seine eigene Totenmesse geschrieben hatte, war er durch Wagners epochalen Ruhm und Erfolg so gelähmt, dass er bis zur Zeit der fiktiven Begegnung im Venedig des Jahres 1883 keine Zeile mehr komponiert oder aber seine Entwürfe sofort wieder verbrannt hatte. Als er am 27. Januar 1901 im Alter von 88 Jahren starb, konnte er dennoch auf ein eindrucksvolles musikalisches Werk zurückschauen, zu dem allein 28 Opern zählen.
Aus der durch die lange währende eigene Schaffenskrise stark eingeschränkten Perspektive seines hoch geschätzten Helden Verdi, zeichnete Franz Werfel dennoch ein rundes Bild des selbstbewussten und erfolgsverwöhnten Erneuerers der europäischen Musik des 19. Jahrhunderts, Richard Wagner.
Auch wenn Richard Wagner und Giuseppe Verdi sich nie persönlich begegneten, führt Franz Werfel in seinem Roman die beiden in Venedig virtuos zusammen. Zu einer Aussprache der beiden kommt es aber auch in seiner kraftvollen Fiktion nicht. Als Verdi sich endlich dazu durchringt, der berühmten deutschen Musikerlegende eine Aufwartung zu machen, muss er erfahren, dass sein musikalischer Widersacher in der Nacht überraschend verstorben war.
Schon als Schüler hatte sich Franz Werfel vorgenommen, eine Biografie des von ihm hoch verehrten Maestro Verdi zu schreiben. Aus einer geplanten, der Realität verpflichteten Biografie, entwickelte sich dann aber ein mutiger fiktiver Roman. „Die Wahrheit nachbilden, mag gut sein, aber die Wahrheit erfinden, ist besser, viel besser“, zitiert Franz Werfel seinen Protagonisten, der damit das „Geheimnis der Kunst“ auf den Punkt gebracht hat.
Rudolf Guckelsberger inszenierte die faszinierende Idee einer Begegnung der beiden herausragenden Musikerpersönlichkeiten in eindrucksvoller Perfektion und überzeugenden Perspektivewechseln. Mit gut ausgewählten und mit präzisem Zeitgefühl immer wieder optimal gesetzten Musikeinspielungen untermalt, präsentierte er Szenen einer räumlichen Annäherung, die nicht besser hätten erdacht werden können.
Franz Werfels 1924 „erfundene Wahrheit“ über die beiden konkurrierenden und doch so unterschiedlichen „Superstars“ Verdi und Wagner bildete die solide Grundlage eines hart erarbeiteten, aber dafür umso genussvolleren Abends, den Rudolf Guckelsberger seinen Gastgebern und dem begeisterten Publikum schenkte.
Einen weit über 400 Seiten starken Roman in weit weniger als zwei Stunden „verlustfrei“ zu präsentieren, ist eine eindrucksvolle Leistung. Wenn ein so drastisch verknapptes Konvolut dann auch noch kongenial mit ausgewählten Musikpretiosen vermengt wird, ist genussvolles musikalisch-literarisches Hörvergnügen garantiert – und das war auch der Fall.
Rudolf Guckelsberger verstand, aus der überbordenden Fülle des von Franz Werfel vorgegebenen Materials faszinierende und überzeugende Porträts dieser beiden so unterschiedlichen Musiker zu zeichnen, die – im Jahr 1813 zur Welt gekommen – „bereits im 19. Jahrhundert als antipodische Vertreter der deutschen beziehungsweise italienischen Kultur galten“.
Sibylle Mockler zeigte in ihrer Einführung auf, dass Giuseppe Verdi und Richard Wagner sich durchaus bewusst „als gegenseitige Konkurrenten in der Gunst des Publikums wahrnahmen“. Verdi nimmt Wagners Musik und Erfolg kritisch, aber wohlwollend zur Kenntnis. In Richard Wagner sieht er einen „Mann mit viel Talent, der sich auf verschlungenen Wegen gefällt, weil er die einfachen und geraden nicht zu finden weiß“, während Richard Wagner in einem Brief an Friedrich Nietzsche Giuseppe Verdis Arbeit kurzerhand als „Leierkastenmusik“ diskreditiert.
Franz Werfel lässt die beiden Musiker dann zur Karnevalszeit in Venedig zusammentreffen. Der überraschende Tod des insgeheim tief bewunderten Konkurrenten, verleiht Verdi neue Schaffenskraft, befähigt ihn, wieder zu sich selbst zu finden, sein Talent neu aufleben zu lassen und den „Othello“ zu schreiben.
Franz Werfels Roman wie auch Rudolf Guckelsbergers Lesung enden mit einem Zitat Verdis, der seinen Freund, den als Schriftsteller und Komponist berühmt gewordenen Arrigo Boito gut gelaunt auffordert: „Jetzt lassen Sie diesen Unsinn in der Schublade, holen sich die Geige, die dort liegt, und dann werden wir eine dieser wirklich meisterhaften Sonaten von Corelli spielen. Aber nur eine! Mehr vertragen meine Augen nicht“.
Mit einer Corelli-Sonate klang die mit dem „Requiem“ feierlich eröffnete musikalisch-literarische Sternstunde dann auch stimmig wieder aus.