Kirchheim. Der Erste Weltkrieg hat viele Leben zerstört. In anderen Fällen hat er aber auch dafür gesorgt, dass Leben entstanden ist, das es
sonst wohl nicht gegeben hätte: Bei Helmut Hammberger aus Kirchheim beispielsweise steht zu vermuten, dass sich seine Eltern ohne den Ersten Weltkrieg niemals kennengelernt hätten. Helmut Hammbergers Vater Christian kam 1917 ins Lazarett nach Dortmund, und dort ist er einer Dortmunderin begegnet – seiner späteren Frau Emmi.
Trotzdem liegen auch in dieser Geschichte Tod und Leben nahe beieinander, denn beinahe wäre Christian Hammberger damals nicht ins Lazarett gekommen. Wäre die Kugel aus einem Schrapnell, die zu seiner Verwundung geführt hatte, tödlich gewesen, hätte er sein Leben als kaum 20-Jähriger auf einem belgischen Schlachtfeld beendet. So aber hat ihn dieses Schicksal 24 Jahre später ereilt: Mit noch nicht ganz 44 Jahren ist Christian Hammberger im Sommer 1941 in Russland ums Leben gekommen. Sein Name findet sich deshalb trotzdem auf einer der Tafeln des Kriegerdenkmals auf dem Alten Friedhof in Kirchheim – aber eben auf einer der Tafeln am Boden, auf denen die Kirchheimer Opfer des Zweiten Weltkriegs verzeichnet sind.
Doch der Reihe nach: Auf den Aufruf im Teckboten, Familien-Überlieferungen zum Ersten Weltkrieg weiterzugeben, hat sich der 89-jährige Helmut Hammberger gemeldet. Außer seinen Erinnerungen und einigen Fotos hatte er auch etwas im Gepäck, was sich in vielen Familien erhalten zu haben scheint: ein Zigarrenkistchen mit ausgesprochen weltlichen Devotionalien – ein paar Kubikzentimeter voll Erinnerung an ein Leben als Soldat. Orden und Ehrenzeichen beziehen sich mitunter auch auf Vereinsmitgliedschaften. Hauptsächlich aber sind es Hinterlassenschaften aus dem Krieg und der Soldatenzeit: Eiserne Kreuze und dergleichen.
In der Zigarrenkiste Helmut Hammbergers befindet sich aber noch etwas ganz anderes: eine kleine deformierte Kugel, die seinem Vater 1917 operativ entfernt werden musste. Sie stammte aus einem Schrapnellgeschoss und hatte Christian Hammberger 1917 auf dem Kriegsschauplatz in Flandern getroffen.
Helmut Hammberger betrachtet die Kugel mitsamt der Verformung, die ihn auf die Idee bringt, dass es sich um einen Querschläger gehandelt haben muss, der seinen Vater vor beinahe hundert Jahren erwischt hatte: „Diese Kugel hat er abbekommen. Sie hat ihn direkt neben dem Rückgrat getroffen.“ Nach diesem Treffer war der Erste Weltkrieg für Christian Hammberger beendet. Entlassen wurde er als Leutnant.
Anfang Juni 1917 hatte es in Flandern heftige Kämpfe gegeben. Besonders umkämpft war der „Wytschaetebogen“. Das belgische Dorf Wytschaete oder Wijtschate liegt südlich von Ypern, ungefähr auf halber Strecke nach Armentières im Norden Frankreichs, nahe Lille. Die Kämpfe der dritten Flandern- oder auch der dritten Ypernschlacht, die zur britischen Frühjahrsoffensive des Jahres 1917 zählten, zogen sich von Mai bis November hin und brachten kaum Gewinne. Die Verluste auf beiden Seiten der Front waren dafür umso größer: Tote und Vermisste summieren sich auf insgesamt 135 000 Mann. Hinzu kommen noch fast eine Viertelmillion Verwundete.
Einer dieser Verwundeten war eben der junge Kirchheimer Soldat Christian Hammberger. Und zu der Tatsache, dass es sich bei den Kämpfen um eine britische Offensive handelte, passt eine Aussage Helmut Hammbergers: „Im Zusammenhang mit der Verwundung von 1917 war bei meinem Vater immer nur von Engländern die Rede.“ An sehr viel mehr erinnert sich der Sohn nicht, obwohl er meint: „Mein Vater hat sicher viel erzählt. Aber so viel davon ist bei mir nicht hängen geblieben.“
Die (positive) Folge der Verwundung von 1917 ist eingangs bereits angedeutet worden: Im Lazarett in Dortmund lernte der Kirchheimer Christian Hammberger – dessen Geburtshaus am heutigen „Kronekreisel“ kürzlich abgerissen wurde – seine spätere Frau Emmi kennen. „Meine Mutter ist aus der Großstadt ins kalte Wasser gekommen, nämlich nach Weilheim“, sagt Helmut Hammberger. 1928, als er vier Jahre alt war, ist die Familie nach Kirchheim gezogen. Christian Hammberger hatte als „Rechnungsrat“ die Leitung der Ortskrankenkasse übernommen. Die Dienststelle war am Kirchheimer Marktplatz, die Dienstwohnung im oberen Stockwerk.
In der Zwischenkriegszeit habe sein Vater an diversen Ersatzübungen teilgenommen, berichtet Helmut Hammberger. Er verhehlt auch nicht, dass sich sein Vater in dieser Zeit dem Nationalsozialismus zugewandt hat: „Er war Sturmführer und Mitglied im SA-Sportbund.“ Im Zweiten Weltkrieg sei Christian Hammberger zunächst in Frankreich gewesen – „aber nicht im Einsatz“. Zum Einsatz kam es dann aber spätestens 1941 in Russland: „Gefallen ist er am 14. Juli 1941, nach gerade einmal drei Wochen Russland-Krieg.“ Gut fünf Wochen später – am 20. August 1941 – wäre Christian Hammberger 44 Jahre alt geworden.
Mit dem Soldatentod Christian Hammbergers ist die Geschichte aber noch nicht ganz zu Ende. Helmut Hammberger erzählt nämlich weiter, dass ein Nachbar, der damals am Marktplatz einen Fotoladen betrieb, auch beim Wehrbezirkskommando tätig war. Der habe ihm Ende 1942 mitgeteilt: „Helmut, ich habe deinen Einberufungsbescheid.“ Angefügt habe er die Frage: „Willst du gleich gehen oder erst im März?“
Der 18-jährige Helmut Hammberger, dessen Vater keine anderthalb Jahre zuvor gefallen war, sagte damals in seiner Begeisterung: „Ich will gleich gehen.“ Begeistert war er vor allem vom Fliegen. Schon als Jugendlicher war er zusammen mit vielen Gleichaltrigen an die Fliegerei herangeführt worden. „Durch das Fliegen sind wir auf den Krieg vorbereitet worden“, stellt er jetzt, im Alter, fest. Was allerdings die Zeit seiner Jugend betrifft, sagt er zu dem Thema: „Da denkt man nicht an so was.“
Der Fliegerei ist Helmut Hammberger übrigens zeitlebens verbunden geblieben, aber ohne jeglichen militärischen Hintergrund. Dafür hat er in französischer Kriegsgefangenschaft bis 1947 seinen späteren Beruf unter primitivsten Mitteln im Lager ausgeübt: Als angehender Zahnarzt hat er unter allen möglichen provisorischen und improvisierten Umständen seine Mitgefangenen behandelt. Obwohl er die Kriegsgefangenschaft in Frankreich als „viel schlimmer als bei den Amerikanern“ erlebt hat, spricht er noch heute mit größter Hochachtung von seinen französischen Zahnarzt-Kollegen, die ihn seinerzeit immer wieder mit Spritzen und anderem Material versorgt haben – obwohl sie das nicht unbedingt hätten tun dürfen.
Nach abenteuerlicher Flucht ist Helmut Hammberger 1947 nach Kirchheim heimgekehrt. Aber das ist eigentlich eine andere Geschichte. Interessant ist jedoch, dass ihm zu Hause in Kirchheim „ein alter SPD-Mann“ weitergeholfen hat, „mit dem sich mein Vater immer gut verstanden hat“. Das zeigt, dass mitunter persönliche Verbindungen auch über politisch unvereinbare Gegensätze triumphieren konnten.
Hätte die Schrapnellkugel Christian Hammberger im Sommer 1917 allerdings nur ein bisschen anders getroffen, dann wären diese politischen Gegensätze zwischen ihm und dem guten Bekannten wohl nie zum Tragen gekommen. Und Helmut Hammberger hätte definitiv keine Geschichte erzählen können – weder die eigene noch die seines Vaters.