Flüchtlinge aus Westbalkan-Staaten sollen künftig pauschal abgelehnt werden
Eine Roma-Familie hofft auf ihre Chance

Deutschland oder Mazedonien ist für Sini Osmani (alle Namen geändert) eine Frage von Leben oder Tod. Der 50-jährige Mazedonier ist zuckerkrank. Auf vernünftige medizinische Behandlung darf er in Mazedonien nicht hoffen, schon gar nicht als Roma. Darum hat die Familie alles auf eine Karte gesetzt und ist nach Deutschland gekommen.

Nürtingen. Die Krankenakte ist lang: Sini Osmani kann kaum laufen und sehen. Für eine vernünftige Behandlung in Mazedonien fehlte ihm das Geld. In Nürtingen wartet er nun mit seiner Frau Bukra und Sohn Denis darauf, ob sie eine Chance bekommen oder nicht. Sie haben dabei schlechte Karten: Die Bundesregierung möchte alle Länder des Westbalkans, also auch Mazedonien, zu „sicheren Herkunftsländern“ erklären. Das bedeutet, dass Menschen aus diesen Ländern kein eigenes, individuelles Asylverfahren mehr bekommen, sondern pauschal keinen Anspruch mehr haben, bleiben zu dürfen.

Die Osmanis haben schon einmal, von 1992 bis 2001, in Deutschland gelebt und gearbeitet. Dann mussten sie ausreisen. Nun sind sie wieder zurück in Nürtingen und klammern sich an die winzige Hoffnung, diesmal bleiben zu dürfen. Der jüngste Sohn ist in den 90er-Jahren hier geboren, hat aber versäumt, zur rechten Zeit einen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft zu stellen. Alle Familienmitglieder sprechen gut Deutsch. Der Sohn macht gerade ein Praktikum und hat Aussichten auf eine Lehrstelle. Könnten er und Bukra Osmani arbeiten, wäre auch Sini Osmani versorgt.

Die Osmanis wollen nicht viel vom Leben, nur ein wenig Sicherheit. Derzeit läuft eine Klage gegen die Ablehnung ihres Asylverfahrens. Ihre wirklichen Namen möchten die Familienmitglieder nicht nennen, um die winzige Chance, die sie noch haben, nicht auch noch zu gefährden.

Ragini Wahl und Michaela Saliari, Mitglieder des Netzwerkes N-Fant Nürtingen kritisieren, dass durch die Erklärung der Westbalkan-Staaten zu „sicheren Herkunftsländern“ ein fataler Domino-Effekt entstehe: weil niemand damit rechnet, dass die Flüchtlinge ein Bleiberecht bekommen, setzt sich keiner für sie ein. Aus der Politik ist zu hören, man solle sie erst gar nicht in die Erstaufnahmestelle Karlsruhe lassen, um dort die Betten für die echten Notfälle freizuhalten.

Haupt- wie ehrenamtliche Flüchtlingsbegleiter überlegen sich dreimal, ob sie Zeit und Energie in diese „Fälle“ stecken sollen, da diese Menschen ohnehin bald gehen werden. Die Lehrer hören auf, die Roma-Kinder in den Vorbereitungsklassen zu fördern und kümmern sich lieber um Kinder, von denen sie denken, sie würden länger bleiben. Dasselbe gilt für Anwälte: es sei sehr schwer, jemanden zu finden, der sich wirklich engagiert. Außerdem ist es nicht besonders populär, sich für Roma einzusetzen. So ist nicht genau klar, was Ursache, und was Wirkung ist. Nur 0,1 Prozent der Serben und 0,2 Prozent der Mazedonier bekommen ein Bleiberecht. Ragini Wahl warnt, dass bei Roma im Asylverfahren die Genfer Flüchtlingskonvention außer Kraft gesetzt ist und eine Einzelfallprüfung nicht mehr stattfindet.

Der Ablehnung der Osmanis ist ein längerer Text aus dem Auswärtigen Amt beigefügt. Grundtenor: In Mazedonien ist die Lage allgemein schlecht, für die Roma schlechter als für andere, aber immer noch vertretbar. Sie hätten ganz normal Zugang zur medizinischen Versorgung. Sini Osmani beschreibt, wie das tatsächlich aussieht: Acht Monate Wartezeit auf einen Arzttermin, acht Monate, in denen sich die Augen verschlechtern, oder bezahlen. Aber wovon? In Mazedonien würden drei Leute 32 Euro pro Monat an Sozialhilfe bekommen, das reicht nicht einmal fürs Essen.

Geld braucht ein Zuckerkranker mehr als andere. Eine Blutzuckermessung kostet jedes Mal umgerechnet 90 Cent, auch eine Blutuntersuchung muss extra bezahlt werden. „Die Wirklichkeit ist anders, als das Auswärtige Amt es beschreibt. Auf dem Papier gibt es gewisse Rechte, in der Praxis funktioniert das nicht“, sagt Sini Osmani.

Das, was nicht funktioniert, kostet Lebensjahre. Die Lebenserwartung der Roma liegt um zehn Prozent unter der der anderen Mazedonier. Ein engagierter Anwalt, glauben Ragini Wahl und Michaela Saliari, würde auf diese Umstände hinweisen und könnte ein Bleiberecht aus humanitären Gründen erwirken. Aber ein Anwalt kostet viel Geld und die Ehrenamtlichen, die zuarbeiten, haben nicht unbegrenzt Kapazitäten. Zumal es nur wenig Anerkennung, auch im Bekanntenkreis gibt, wenn sich die Ehrenamtlichen gerade für Roma einsetzen. Auch hierzulande haben sie ein schlechtes Image, das die wenigen ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer nicht gerade anlockt. „Die professionelle Beratung fehlt bei allen Flüchtlingen“, sagt Ragini Wahl.

Ohne Beratung passieren Fehler, die in der Akte landen und kaum noch zu tilgen sind. Im Falle der Osmanis steht in der Akte, die Familie könne ihnen unter die Arme greifen. Aber in der Familie haben alle gerade selbst kaum genug für sich. Der älteste Sohn lebt in Skopje als Schrottsammler, die Tochter ist in Deutschland verheiratet.

Niemand könne überprüfen, ob der Übersetzer alles richtig wiedergibt. Im Falle der Osmanis sei der Übersetzer Albaner gewesen – jene Volksgruppe, mit der die Roma am meisten Schwierigkeiten haben. Kann man einem solchen Übersetzer vertrauen und ihm von Übergriffen seitens der Albaner berichten? Sohn Denis hatte mehr Glück, für ihn übersetzte ein Roma, der die Verhältnisse in Mazedonien kennt.

Die Situation, die die Familie in Mazedonien erwarten würde, schildert Sini Osmani: Als sie das letzte Mal zurückkehrten, bekamen sie erst nach sechs Monaten Sozialhilfe und konnten nur dank der Hilfe von Freunden aus Deutschland überleben. Sini Osmani fand die ganze Zeit über keine Arbeit, seine Frau Bukra arbeitete als Haushälterin und wurde, wie sie sagt, wegen jemandem gekündigt, der für noch weniger Geld als 70 Euro pro Monat arbeitete. Dann arbeiteten beide gemeinsam als Putzhilfen in einer Bäckerei, Sini Osmanis Sehkraft war bereits so schlecht, dass er alleine nicht mehr arbeiten konnte.

Arbeit in einer anderen Stadt zu suchen sei recht zwecklos, es gebe ohne Arbeit nirgendwo ein Dach über dem Kopf und nur Tagelöhner-Jobs. Die Arbeitslosenquote in Mazedonien ist hoch, unter den Roma besonders. Schikanen seien an der Tagesordnung und es gebe kein Entrinnen. Als Roma werde die Familie sofort erkannt: die Sprache, die Gesichtszüge und eine Nummer im Ausweis, die die ethnische Zugehörigkeit benennt, macht sie unverkennbar. Daran änderte auch nichts, dass die Familie den Namen des ältesten Sohnes änderte, damit er nicht mehr auffiel.

Eigentlich, erklärt Michaela Saliari, nehmen viele die Roma erst dann wahr, wenn sie dem Klischee entsprechen. Dann denken die Menschen, alle seien so. Dabei gebe es unter dieser größten europäischen Minderheit alle möglichen Persönlichkeiten und Berufsgruppen, und nicht mehr und nicht weniger Kriminelle als unter anderen. Sie hofft, dass die Osmanis eine Chance bekommen, ein menschenwürdiges Leben zu führen.