Isabel Demey las auf Einladung des Literaturbeirats Texte zu „Hesse in Kirchheim“
Eine wichtige Stufe der Entwicklung

Kirchheim. „Die schöne Stadt Kirchheim war soeben von einem sommerlichen Regen abgewaschen worden.“ Da wird‘s einem Kirchheimer

wohl, wenn er das liest. Von wem stammt dieser wohlwollende Satz? Es ist der erste Satz einer autobiografischen Erzählung eines jungen Autors namens Hermann Hesse, der einmal den Nobelpreis erhalten wird. Und so strömten unerwartet viele Zuhörer ins Max-Eyth-Haus zu einer sonntäglichen Matinee, die ins Gedächtnis rief, dass in Kirchheim, dem doch der Ruf der Provinzialität anhaftet, durch einen Besuch Hesses literaturgeschichtlich Bemerkenswertes passiert ist.

Hier die Fakten: Hesse hatte in der Buchhandlung Heckenhauer im Juli 1899 seine Buchhändlerlehre abgeschlossen. Bevor er nach Basel zu einer neuen Stelle übersiedelte, feierte er mit Freunden aus Tübingen in Kirchheim Abschied. Der Freundeskreis nannte sich nach einer Vereinigung spätromantischer Dichter in Frankreich „petit cénacle“. Das Treffen fand in Kirchheim statt, da drei seiner Studentenfreunde aus Kirchheim stammten. Am 16. August 1899 traf er deshalb mit seinem Koffer und seinem Geigenkasten in Kirchheim ein. Sein Freund Ludwig Finkh brachte ihn in das Gasthaus Krone am Schlossgraben. Er blieb dort keine geplanten zwei, sondern zehn Tage, weil er sich in die Bedienung Julie Hellmann, eine Nichte des Kronenwirts, verliebte. Die Freunde feierten übermütig und ließen sich vom Kirchheimer Fotografen Otto Hofmann in der Jesinger Straße 10 fotografieren. Kostproben der Bilderserie sind im Literaturmuseum im Max-Eyth-Haus zu sehen, in dem der ganze Besuch und seine Nachwirkungen dokumentiert sind.

Literarisch verarbeitet wurde der Aufenthalt in Hesses Erzählung „Lulu“, aus der der zitierte Eingangssatz stammt, und in seiner literarischen Skizze „Kastanienbäume“. Der Text selbst ist in einer sehr schönen Ausgabe des Schöllkopf-Verlages Kirchheim leicht greifbar. „Lulu“ ist angereichert mit den „Kastanienbäumen“, außerdem mit einem Liebesbrief Hesses an Julie und mit einem Nachwort von Rainer Laskowski über den „petit cénacle“. Ludwig Finkh­ hat sich in seiner Erzählung „Verzauberung“ noch fünfzig Jahre danach an das Treffen erinnert. Sie ist ebenfalls bei Schöllkopf verlegt. Julie Hellmanns Person wurde so interessant, dass eine Biografie über sie erschien.

Isabel Demey hat aus diesen literarischen Zeugnissen eine Lesung zusammengestellt. Sie ist in Weilheim geboren, in Kirchheim zur Schule gegangen und jetzt als studierte Sprecherzieherin und medienerfahrene Sprecherin zurückgekommen. Das passt doch maßgeschneidert zu den vorgetragenen Texten. Sie ist bodenständig und professionell zugleich. Wie Barbara Nagel vom gastgebenden Literaturbeirat betonte, steckte in der kurzweiligen Vorlesestunde eine Menge Vorarbeit. Isabel Demey komponierte eine Textcollage und erhellte sie durch eine Einführung und eingestreute Erläuterungen. Ihre Vortragskunst kommt ohne Effekt­hascherei aus. Ob Gedicht, Sachtext oder Erzählung, für jede Textsorte fand sie durch ihren meis­terhaften Umgang mit der Stimme den richtigen Ton.

Bei der Textauswahl lag der Schwerpunkt natürlich auf Hesses „Lulu – ein Jugenderlebnis, dem Gedächtnis E.T.A. Hofmanns gewidmet“. Hesse hat sie 1900 geschrieben und 1907 in die locker gefügte Erzählsammlung „Hermann Lauscher“ eingefügt. „Hermann Lauscher“ ist ein Pseudonym, unter dem der Autor Jugenderlebnisse verarbeitet, so auch seine Verzauberung durch Julie Hellmann im Kirchheimer Gasthof „Krone“. Hesse schildert, wie die Freunde eintrudeln, wie sie sich Gedichte vorlesen, wie sie philosophieren, wie sie alle entzückt sind von Julie und um sie werben und wie sie Abschied feiern.

In die adjektivselige Beschreibung des fröhlichen Treibens hat Hesse Gedichte und eine geheimnisvoll raunende Märchenebene eingebaut. Er lässt die Märchenwelt in den Tag- und Nachtträumen seiner Gestalten auftauchen. Es gibt neben anderem Märchenpersonal eine Prinzessin Lilia und einen König Ohneleid, dessen „Harfe Silberlied“ verstummt ist. Klar wird immerhin, warum Hesse die Erzählung „dem Gedächtnis E.T.A Hofmanns“ widmet. Wie bei dem Spätromantiker findet ein dauernder Wechsel zwischen der „realistischen“ Ebene und einer aus dem Unbewussten gespeisten magisch-mythischen Erzählebene statt.

Der junge Hesse ist noch auf der Suche nach seiner Identität als Dichter und muss die Erfahrung machen, dass für einen modernen Dichter das „wahre Leben“, von dem die „Harfe Silberlied“ singt, nicht in die Realität übertragen werden kann, wie die Romantiker glaubten. Julie ist keine „Prinzessin Lulu“. Insofern bedeutet „Lulu“ für Hesse als Autor, um eine Metapher aus seinem wohl bekanntesten Gedicht aufzugreifen, eine „Stufe“ der Entwicklung. Deshalb passte es, dass Isabel Demey bei ihrer Auswahl auf die Märchenhandlung völlig verzichtete und die „realistischen“ Passagen vorlas. Bei einer eingeschobenen Passage aus Ludwig Finkhs „Verzauberung“ wird die Ankunft Hesses noch konkreter und detailfreudiger erzählt.

In der Prosaskizze „Kastanienbäume“ erinnert sich Hesse vier Jahre später noch einmal an seinen Kirchheimer Aufenthalt. Die neue Stufe der Entwicklung des Erzählstils macht sich bemerkbar. Nun ist keine Verzauberung durch Stadt und Menschen mehr spürbar. Kühler Realismus prägt den Stil und das Lokalkolorit wird verwischt. Eine ähnliche Ernüchterung packt heute einen Kirchheimer, wenn er nach der Idylle der „Krone“ sucht, deren Gebäude in der Alleenstraße immerhin noch erhalten ist, und ein bonbonfarbenes, von Verkehr umbraustes Mega-Fun-Center vorfindet.

Zum Schluss verfolgte Isabel Demey die Beziehung der beiden gemäß einer Untersuchung des Literaturwissenschaftlers Volker Michels: „Vom Überdauern einer abgewiesenen Liebe. Hermann Hesses „Lulu“ in Kirchheim-Teck“. Sie haben sich nie wieder gesehen. Bis Ende 1899 schrieb Hesse glühende Liebesbriefe aus Basel, die Julie nicht oder realitätsnah ablehnend beantwortete. Es ist überliefert, dass ihr das schüchterne Jüngelchen nicht imponierte, nur sein Geigenspiel gefiel ihr. Danach kehrte sich das Verhältnis um. Julie schrieb dem immer berühmteren Dichter immer wieder. Hesse antwortete, blieb aber im Sachlich-Allgemeinen, nicht zuletzt aufgrund neuer Verzauberungen. Julie blieb ledig. Ihr blieben die Erinnerungen und nicht weniger als siebenundsiebzig Briefe Hesses. Sie starb 1972 in Heilbronn, knapp zehn Jahre nach Hesse. Sie trös­tete sich mit der Einsicht, dass eine lebenslange Freundschaft aus der Ferne erfüllter war, als eine höchstwahrscheinlich kurze Ehe.

Wie traurig. Wie schön. Und alles hat in Kirchheim begonnen.