Mitglieder einer früheren Kirchheimer Pfadfindersiedlung im Gespräch über ihre besonders innige Beziehung zu den Glocken der Martinskirche
Erinnerungen an den Läutedienst

Kirchheim. Wenn die Martinskir­chengemeinde am Sonntag feiert, weil ziemlich genau 60 Jahre zuvor – am 14. September 1952 – erstmals wieder seit zehn Jahren ein volles 
Geläut vom Kirchturm zu hören war, dann gehen beide Ereignisse auf die Initiative von Pfadfindern zurück. Die Mitglieder der einstigen evangelischen Pfadfindersiedlung „Konrad Wider­holt“ aus Kirchheim haben seit jeher ein inniges Verhältnis zu den Glocken der Martinskirche: Für die „Vaterunserglocke“ haben sie als Halbwüchsige Geld gesammelt. Das volle Geläut haben sie als junge Burschen jahrelang läuten helfen. Und erst vor wenigen Wochen haben sie – nunmehr als gestandene Herren mit ergrautem Haar – kräftig Hand angelegt, um „ihre“ Glocken einer gründlichen Reinigung zu unterziehen.

Im Gespräch über die Zeit, als das Glockenläuten noch Handarbeit war, werden die alten Pfadfinder noch einmal zu den Lausbuben, die sie seinerzeit waren. Siegfried Russ beispielsweise erzählt von einem besonderen Aufnahmeritual: auf das Joch der „Großen Glocke“ steigen und eine ganze Läutephase oben sitzen bleiben. Seine beiden einstigen und heutigen Mitstreiter, Willi Kopf und Adolf Till, verneinen zwar vehement, dass alle läutenden Pfadfinder diese Prüfung hätten über sich ergehen lassen müssen. Aber sie erinnern sich an so viele andere Jugendstreiche – etwa von versteckten Autos –, dass das Glockenreiten sicher nicht nur „Pfadfinderlatein“ sein dürfte.

Voller Respekt jedoch sprechen die Herren von ihrem „Siedlungsführer“, dem erst kürzlich verstorbenen Hans Höger, der sie in ihrer Jugendzeit stark geprägt hat. Er war es auch, der die Jungs Anfang Januar 1952, kurz nach Gründung ihrer Kirch­heimer Pfadfindergruppe, zum Sammeln geschickt hat – für eine neue Vaterunserglocke an der Martinskirche. Diese erfolgreiche Sammlung war die Initialzündung für die Vervollständigung des Geläuts nach dem Zweiten Weltkrieg: Zum einen fühlte sich die Kirchengemeinde angestachelt, ihrerseits für zwei weitere Glocken zu sammeln, und zum anderen wiederholten die früheren Stifterfamilien Ficker und Schöllkopf ihre großzügigen Gesten und spendeten erneut zwei Glocken.

Danach waren die Pfadfinder aber auch gefordert, die Türmer-Familie Herion beim großen Geläut zu unterstützen, denn alle sieben Glocken waren von Hand zu bedienen. „Unser Oberläuter hat gar nicht selbst am Seil gezogen, der hat nur Regie geführt“, erinnert sich Adolf Till, der Experte in Sachen Martinskirchenglocken-Geschichte. Und dass das Läuten in äußerster Perfektion vonstatten ging, das zeigt sich auch an einer Äußerung von Siegfried Russ: „Es stört mich heute noch, wenn bei den elektrischen Einrichtungen die Glocken nachschlagen. Für uns war es selbstverständlich, durch Gegenschwingen und viel Gefühl zu verhindern, dass der Klöppel auch nur ein einziges Mal nachschlägt.“

Stolz sind die Pfadfinder bis heute auch auf „ihre“ Vaterunserglocke. „Es gibt wohl nicht viele andere Glocken, auf denen die Lilie als Pfadfinderzeichen eingegossen ist“, sagt Willi Kopf, der mit rund 30 Pfadfindern rechnet, die am Sonntag aus allen Himmelsrichtungen zum Festgottesdienst an ihre alte Wirkungsstätte kommen.

Allesamt können sie dann alte Zeiten aufleben lassen und sich erinnern, wie sie – bis zur Umstellung auf elektrischen Betrieb 1960 – an den Seilen gezogen haben und bei Beerdigungen auf die Signale aus dem Haus eines Schuhmachers angewiesen waren, der direkt am Friedhof wohnte: Mit den Fensterläden wurde damals Zeichen gegeben, wenn der Trauerzug angekommen war und das Totenglöcklein aufhören sollte zu läuten.

Die Pfadfinder, die auch den Glockengottesdienst übermorgen angeregt haben, können sich am Sonntag sogar an Aktuelles erinnern: an ihre Putzaktion Mitte Juni. Auch da waren alte Verbindungen gefragt. So sorgte Zimmermann Eugen Banzhaf für ein sicheres Gerüst zum Glockenputzen. Und Hans Paulin hat die ganze Aktion auch noch schwäbisch-hintersinnig bedichtet. „A Jenseitsg‘schäft mit wenig Nutza / Isch: auf em Kirchturm d‘Glocka putza“, schreibt er und erklärt das Ganze nur durch den „total verklärten Blick“, der die Mannen an die Zeit vor 60 Jahren erinnert.

Und so sehen sie sich dann im Rückblick noch einmal beim Läutedienst: „Wia se ziagat, wia se hopfat, / Bis dr Schwoiß en d‘Anka tropfat. / Mer isch jong, mer ståht em Saft, / Mer isch laut, mer spürt sei Kraft!“