Commissario Neretti und der Kerl aus der Lagune
Es wird Weihnachten in Venedig

Als Commissario Neretti gerade ein Dienstgespräch führte, begann es zu schneien. Neretti konnte sich nicht erinnern, wann es in der Weihnachtswoche in Venedig zuletzt geschneit hatte. Gelangweilt blickte er aus dem Fenster der Questura, wie dort das Polizeipräsidium heißt. „Ich sollte die Feiertage nicht in der Stadt verbringen“, dachte er ärgerlich. Es war immer dasselbe. Einladungen, Vorbereitungen, Einkäufe, und dann fischten die Kollegen wieder einen aufgedunsenen Drogenschmuggler aus dem Canal Grande. Das Weihnachtsfest konnte man vergessen. Dem Kollegen Brunetti würde man kaum so einen unangenehmen Fall aufbürden.

„Sergente Rapallo! Schickt mir auf der Stelle dieses müslimalmende Ungeheuer in mein Büro“, polterte er. Nach zehn Minuten erschien Rapallo und grinste vielsagend. „Sie haben mich rufen lassen, Commissario? Es tut mir leid, aber Sie können Ihre Weihnachtspläne vergessen. Das Müllboot hat heute in der Frühe einen dunkelhäutigen Kerl aus der Lagune gezogen. Er wird derzeit noch untersucht.“

Neretti horchte auf. „Dunkelhäutiger Kerl? Also wieder einer aus Afrika? Na, wo wird der wohl hergekommen sein, sicher über das Auffanglager auf Lampedusa. Ich bin das so leid. Wahrscheinlich ändert sich das auch nicht, wenn wir Gaddafi die Milliarden schenken, die er verlangt. Was sagt der Pathologe?“

„Ich weiß nicht, Commissario“, begann Rapallo.

„Wie bitte? Sie hören doch sonst immer die Flöhe husten, Rapallo. Also, wo ist der Bericht aus dem Labor?“

„Es gibt keinen, Commissario. Der Vogel wird gerade verhört.“

„Das wird ja immer verrückter, glauben Sie an Zombies oder wollen Sie mich zum Narren halten?“

„Nichts dergleichen, Commissario. Der Mann lebt noch. Das Seltsame ist dabei, er faselt etwas vom Heiligen Land.“

„Jetzt reicht’s mir aber, Rapallo, ich werfe Sie eigenhändig aus meinem Büro. Selbst wenn Ihr abstruses Gerede stimmt, was haben wir damit zu tun? Das hier ist die Mordkommission. Schon vergessen?“

„Ich weiß, Commissario, aber der Mann hat den Kollegen von einem Verbrechen berichtet. Wollen Sie sich das mal anhören?“

„Na schön“, brummte Neretti. Wenig später erschienen die beiden im Haftkrankenhaus und standen am Bett des Mannes. Statt einer Begrüßung sagte Neretti: „Wieso ist der überhaupt hier und nicht im normalen Spital?“

„Er hat keine Papiere und will uns über seine Identität nichts sagen“, antwortete ein Beamter, der den seltsamen Fremden bewachen sollte.

Ungeduldig begann Neretti: „Verstehen Sie mich?“

Zu seinem Erstaunen antwortete der Mann in einem etwas altertümlichen Italienisch, aber doch verständlich: „Warum haltet ihr mich fest? Ich bin hier, um eine Botschaft zu verkünden.“

„So so, welchem schmierigen Drogenhändler willst du etwas sagen?“

„Ich verstehe euch nicht, Herr. Ich bin unterwegs, um die Botschaft vom Sohn Gottes in der Krippe zu verbreiten. Er ist geboren, um die Menschen auf den rechten Weg zu führen“, sagte der Unbekannte ernsthaft und fügte hinzu: „Er ist ermordet worden, von den Schergen des Statthalters.“

Neretti verzog das Gesicht: „Aha, wer bist du, ein Jünger des Herrn, ein Apostel oder ein Evangelist? Vielleicht sogar der vierte der Heiligen Drei Könige?“ Und er fügte brummend hinzu: „Wieder so ein Spinner. In Israel nennt man das Messias-Syndrom.“

„Ihr habt recht, Herr, ich komme aus dem Heiligen Land, aber dort bin ich nicht zu Hause. Wenn Ihr Beweise wollt: In meinem Beutel findet Ihr etwas Stroh aus der Heiligen Krippe, Weihrauch und Myrrhe.“

Neretti sagte resignierend: „Bringt ihn in die psychiatrische Abteilung, ich höre mir das nicht mehr länger an.“

Rapallo griff in die Habseligkeiten des Fremden. „Commissario, da sind wirklich solche Sachen drin.“ Er hielt Neretti etwas Weihrauch unter die Nase. Das Material war ungewöhnlich elastisch, zerbröselte aber schnell und verbreitete einen betörenden Geruch. Neretti schwanden die Sinne. Als er wieder aufwachte, hob er den Kopf vom Schreibtisch, rieb sich die Augen und rief nach Rapallo. Als dieser endlich erschien, fragte Neretti lauernd: „Was ist mit dem Kerl aus der Lagune? Ist der etwa abgehauen?“ Rapallo blickte ihn fragend an: „Haben Sie zuviel gearbeitet, Commissario? Wir kümmern uns doch gerade um den Fall der verschwundenen Fischer von Pelestrina. Von einer Wasserleiche weiß ich aber nichts.“

Neretti rieb sich die Augen. „Na schön, Rapallo, hauen Sie ab und erledigen Sie Ihre Weihnachtseinkäufe.“ Nachdenklich nahm er die letzten Akten zur Hand. Zwischen all den Dingen auf dem Schreibtisch bemerkte Neretti Weihrauchkrümel und etwas Stroh. Da läutete das Telefon. Der Sergente hatte die Questura bereits verlassen. „Gehen Sie besser nach Hause, Commissario. Und frohe Weihnachten Ihnen und Ihrer Familie.“