Kirchheim. 90 Minuten können bekanntlich Nationen bewegen, besonders wenn es sich um die beiden Halbzeiten eines Länderspiels handelt. Diese Zeit reicht auch aus, wie das musikalisch-literarische Trio um
Viktoria Pardey
Madeleine Giese, Rainer Furch und Alexandra Maas in der Kirchheimer Stadtbücherei beeindruckend unter Beweis stellte, um jedes Land der Europäischen Union einmal wenigstens in Gedanken zu besuchen.
Alphabetisch reisten die rund 100 Besucher in der Stadtbücherei Kirchheim von einem Land zum anderen. Hauptstadt, Fläche, Einwohner, Sprache und Währung wurde ihnen dabei an Fakten mit auf den Weg gegeben. Im Vordergrund jedoch standen Texte, darunter Märchen, Fabeln und Gedichte, aber auch Volkstänze sowie die ein oder andere Nationalhymne, um die Länder in ihrer Wesensart zu porträtieren.
Alexandra Maas begleitete auf dem Akkordeon die stimmgewaltigen Künstler Madeleine Giese und Rainer Furch, die schon mehrfach das Sommerprogramm der Stadtbücherei bereichert haben. Zum 19. Mal findet dieses Jahr in der Ferienzeit unter dem Titel „Text und Töne“ ein kulturelles Programm für alle Daheimgebliebenen und Interessierten statt. Die Leiterin der Stadtbücherei Ingrid Gaus kann sich über regen Zuspruch freuen. Es war wieder einmal jeder Platz besetzt.
Abwechslungsreich, aber harmonisch waren die Stücke ausgewählt. Neben kurzen frechen Limericks – eine besondere Gedichtform mit festem Reimschema, die meist, ohne besonders tiefsinnig zu sein, amüsieren – wurde so etwa auch ein Text von Anne Frank gelesen, der nachdenklich machte. Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens, das nach dem Tod ihrer Eltern auch noch seine Großmutter verliert und von nun an alleine für sich sorgen muss. Der Gedanke, dass ihre Oma als Schutzengel vom Himmel aus über sie wacht, hilft ihr dabei, stark zu sein.
Die Auswahl vieler Beiträge erfolgte intuitiv, wie die Darbietenden durchblicken ließen. Bei den meisten Texten oder auch musikalischen Einlagen handelte es sich einfach um Lieblingswerke des Trios. Für manche Länder war die Wahl vielleicht naheliegend, aber nicht minder schön: So erklang neben einem Walzer des Polen Chopin, auch ein Sonnet des Briten Shakespeare.
Besonders beeindruckend waren die Passagen, in denen der Schauspieler Furch und die Schriftstellerin Giese in verteilten Rollen lasen. Für Slowenien hatten die beiden die Geschichte von der traumdeutenden Schlange ausgesucht. Fasziniert wie Kinder in der Märchenstunde hingen die Besucher an den Lippen der beiden. Gieses Intonierung der Schlange stellte bei einigen Besuchern die Nackenhaare auf und als ihre vortrefflich balancierten Zischlaute noch vom Akkordeon untermalt wurden, fragte sich manch einer der hauptsächlich erwachsenen Zuhörer, warum man sich nur noch so selten auf diese Textgattung einlässt.
„Auch bei den Fakten habe ich etwas gelernt“, gab danach eine Besucherin offen zu. Dass mittlerweile 28 Staaten der Europäischen Union angehören, sei wirklich beeindruckend. Aber dass Deutschland das bevölkerungsreichste Land sei, das habe sie bisher auch nicht gewusst. Interessant im Sinne eines „Europakunde-Unterrichts“ waren auch einige der Textbeiträge. Die Geschichte über den Herrscher Vlad III Draculea, dem Namensgeber des berühmten Grafen aus Bram Stoker’s Roman, wie die finnische Schöpfungssage gehören zum Kulturgut der Staatengemeinschaft, über das man viel zu wenig weiß.
Weil sich die Union mit zu vielen Problemen konfrontiert sieht, kann man heute nicht mehr nur befreit an Europa denken. Jedes Mal, wenn als Währung der „Euro“ erklang, setzte eine gewisse Betroffenheit ein. Für das sicher an Musik und Texten nicht arme Griechenland, lasen Giese und Furch einen Artikel aus der Süddeutschen Zeitung – ein Text, der Mut machte, dass schwierige Zeiten auch positive Auswirkungen haben können.
Mit den Worten „Machen wir uns mal auf den Weg quer durch Europa“ hatte Ingrid Gaus die Veranstaltung eröffnet. In Wirklichkeit war Europa an diesem Tag nach Kirchheim gekommen.