Kirchheim. Zunächst war es ein bisschen wie bei der Bahn selbst: Der eine kam gar nicht, der andere 20 Minuten zu spät. Den Anschluss an ihre Zuhörer haben die Grünen bei ihrer Infoveranstaltung zu Stuttgart 21 in Kirchheim dann aber doch nicht verpasst – dank geschickter Taktung und einer bewährten Zugmaschine. Winfried Hermann, der für den verhinderten Winfried Kretschmann eingesprungen war, kam zwar später. Dann aber bot der Vorsitzende des Verkehrsausschusses im Bundestag den rund 100 Zuhörern im kleinen Saal der Stadthalle eine Fülle von Informationen, Standpunkten und Insider-Geschichten rund um das aktuell brisanteste Thema im Ländle. Im Plauderton, aber mit klaren Worten, knöpfte er sich das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 samt Tiefbahnhof und Neubaustrecke vor, prangerte Klüngelei an, hielt ein Plädoyer für das Alternativkonzept Kopfbahnhof 21 (K 21) und beantwortete Fragen von Bürgern.
Das Warten auf Winne Hermann
überbrückte Andreas Schwarz, Landtagskandidat und Fraktionsvorsitzender der Grünen im Gemeinderat der Teckstadt, mit lokalen Aspekten und Positionen der Kirchheimer Grünen zu Stuttgart 21. Hermann selbst konzentrierte sich auf die große Politik.
Für den Grünen-Bundstagsabgeordneten und Verkehrsexperten steht fest, dass Stuttgart 21 von den Fakten her nicht zu befürworten ist. Winfried Hermanns Meinung nach sind Klüngelei mit Unternehmen, der Einfluss der Landes-CDU und das „politische Erbe“ Faktoren dafür, dass Stuttgart 21 seit Jahrzehnten unterstützt wird. Der einzig richtige Weg sei nun, die Notbremse zu ziehen. „Wenn wir aussteigen, ist das zwar nicht billig“, räumte der Verkehrsexperte ein, „aber wenn wir mit einer Milliarde Verlust rauskommen, sind immer noch neun Milliarden gespart.“
Steigende Kosten und der vergleichsweise geringe Nutzen sind der Hauptgrund, warum die Grünen für eine Umkehr bei Stuttgart 21 plädieren. „Das Projekt stinkt von vorne bis hinten – technisch, finanziell und ökonomisch“, sagte Hermann. Seiner Ansicht nach sollte das Geld für wichtigere und wirtschaftlichere Bahnprojekte eingesetzt werden.
„Die Beschleunigung war schon immer das Hauptargument“, blickte Winfried Hermann auf die Geschichte des Bahnprojekts Stuttgart 21 zurück. „Es hieß: Wir kommen schneller durch Stuttgart durch und schneller nach Ulm.“ Allerdings sei Stuttgart nicht in erster Linie eine Stadt, durch die man mit der Bahn durchfahre. „Der größte Teil der Fahrgäste steigt um oder aus“, so Hermann. Deshalb plädierten die Grünen für einen modernisierten Kopfbahnhof mit 16 Gleisen, in dem ein integraler Taktfahrplan verwirklicht werden kann. „Das Gute an K 21 ist auch, dass man zuerst das Gebäude und das Gleisvorfeld sanieren kann.“ Alle weiteren Baumaßnahmen seien in Schritten möglich, aber nicht notwendig.
„Stuttgart 21 sieht zwar acht unterirdische Gleise vor, aber es wird nicht acht Tunnel geben“, stellte Winfried Hermann den Nutzen des unterirdischen Bahnhofs in Frage. Stattdessen sehe der Entwurf der Bahn an einigen Stellen Eingleisigkeit vor. „Es drohen Engpässe“, warnte Hermann. „Es ist eng am Bahnhof, am Flughafen und bei den Einschleifungen.“
Den Projektbefürwortern warf Hermann vor, die Zeitersparnisse, die Stuttgart 21 und die Neubaustrecke mit sich bringen sollen, schönzurechnen. So würden beispielsweise bei der Verbindung Stuttgart-Tübingen die langsamsten Züge als Vergleichsgrundlage gewählt. Gehe man von einer der schnelleren Verbindungen aus, so „ist der Fortschritt nicht sehr bedeutend.“
Was das Thema Geschwindigkeit angeht, da hatte Hermann ohnehin noch ein Hühnchen mit der Bahn zu rupfen. „Die Strecke Stuttgart-München war beispielsweise schon mal schneller befahrbar“, sagte er. Das Problem jedoch sei, dass es mittlerweile etliche Langsamfahr-Passagen im Schienennetz gebe – „weil die Bahn das Netz hat verlottern lassen.“ Eine Sanierung würde deshalb schon zu einer Beschleunigung beitragen.
„Die Grünen haben sich lange Zeit für die Neubaustrecke eingesetzt“, räumte Winfried Hermann ein. Ziel sei es gewesen, den Engpass Geislinger Steige mit ihrer „alpinen Steigung“ abzuschaffen und damit Vorteile für den Güterverkehr zu schaffen. „Aber was wir bekommen haben, ist eine Strecke, die an zwei Stellen steiler ist als die Geislinger Steige“, begründete Hermann die Kehrtwende. „Die haben es wirklich geschafft, im Tunnel die Alb an der steilsten Stelle zu überqueren.“
Die von der Bahn angepeilten Kosten zweifelt Winfried Hermann an. „Bahn und Bund haben die Neubaustrecke so berechnet, als wäre sie eben und ohne Tunnel.“ Ein Gutachter der Grünen habe die Kosten dagegen über drei Mal so hoch geschätzt. Schwere Zweifel hegen die Grünen an der Wirtschaftlichkeit der Strecke. Der ohnehin schon nach unten korrigierte Kosten-Nutzen-Schlüssel würde bei einer weiteren Verteuerung schnell unter die Wirtschaftlichkeitsgrenze rutschen.
Die Chance auf einen Aussteig biete die Landtagswahl, warb der Grüne schließlich für seine Partei. Allzu weit wollte sich Hermann da aber auch nicht aus dem Fenster lehnen. Denn selbst wenn die Grünen an die Regierung kämen, dann wohl nur in Koalition mit der SPD – einer Befürworterin des Projekts. Trotzdem sieht Winfried Hermann Chancen auf den Aussteig unter Rot-Grün: „Mit der SPD könnte ein Ausweg sein, die Bevölkerung entscheiden zu lassen.“