Lenningen. Farbe ist ein absolut geniales Medium. Man kann damit eine neue Welt schaffen: Farben an einer Fassade sind öffentlich und
sorgen für Momente der Überraschung, etwa bei einer Zugfahrt nach Esslingen. Man erblickt auf der rechten Seite die Plochinger Hundertwasserwelt, die Wohnanlage „Regenturm“ mit den krönenden Märchenkugeln.
Denkmaltage wollen erinnern, ermutigen, sich freier umzuschauen als sonst mit dem Alltags-Routineblick. Das diesjährige Motto bringt Farbe in die Rundum-Augen-Blicke. Denkmaltage fordern auch heraus, historische Bauten in ihrem kunst- und sozialgeschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Diese Tage geben Impulse, verschüttete Chancen der nächsten Generation zu erhalten. In Lenningen warten denkmalwürdige Areale und Gebäudeensembles auf ideenreiche neue Nutzung, darauf, dass „Farben neu gemischt“ werden.
Entdeckungen bei einem Spaziergang durch Lenningen: Die Häuserfassaden sind meist dezent, streben nach Harmonie mit dem Material und dem Umfeld. Russischgrüne, karminrote oder rehbraune Fensterläden – falls sie nicht einer Renovierung zum Opfer gefallen sind – putzen noch manches Architektengebäude aus der Epoche vor dem ersten Weltkrieg und aus den 1920er-, 1930er-Jahren farbig heraus. Mit dem einst sprichwörtlichen Scheufelen-Gelb, ein zartes Sonnengelb mit einem Hauch Ocker, wird demnächst die denkmalgeschützte Turn- und Festhalle Oberlenningen wieder einen neuen Anstrich bekommen. Manche Mutige holen Kinderträume mit ihrem Astrid-Lindgren-roten Haus in den Alltag. Ein paar Bauernhäuser wagen es mit ihrem blassgrünen Verputz, dem Staub der Bundesstraße zu trotzen. Grau und trüb warten leer stehende Häuser auf ihren Abriss. Und worauf warten die kleinen Quader-Walmdachbauten an der Lauter? Noch verleihen terrakottafarbene Backsteinsockel und Fensterlaibungen manchem alten Bauernhaus das Flair von gestern.
Die Architekturstruktur der Sulzburghalle wird durch Grün-Grau-Weiß betont; diesem Beispiel eifern einige Bauherren nach. Grau dürfen alle Katzen in der Nacht sein, aber keine Schule. Der helle Oberlenninger Neubau ist mit seinen farbenfrohen Fensterbildern und den bunten Buchstaben „GRUNDSCHULE“ fein geschmückt, ebenso die Unterlenninger Schulhausfassade. Deren ursprünglich schwungvoller Giebelrand ist nur noch auf alten Fotos zu bewundern. Aber die hellblauen Fensterlaibungen gewähren Lichtblicke in die Schulstuben. Die grün lasierten Dachplatten auf dem Sankt-Martins-Turm ziehen die Blicke an, im frühen Morgenlicht genauso wie in der Abendsonne. Dieses Turmdach will nicht mit den hart glänzenden Solardächern wetteifern. Auf die Farbtöne der Dächerlandschaft des Dorfes soll vor Jahrzehnten einer der Fabrikherren von der Albhöhe herab stets einen prüfenden Blick gehabt haben.
Dieser wohlwollend prüfende Blick ins Tal auf die Hütten, Häuser, Höfe und die noblen Bauten samt der Fabrikanlage bot ein Bild der Harmonie, umgeben von einer Naturkulisse im Wechsel des jahreszeitlichen Licht- und Farbenspiels. Das fasziniert bis heute, diese „Symbiose aus Natur, Arbeit und Wohnen“, wie auf der Homepage der Papierfabrik Scheufelen zu lesen war.
Eine bemerkenswerte Geschichte, die sich vor über hundertfünfzig Jahren in Nürtingen ereignet hat, soll erzählt werden. Auf dem Sterbebett bat eine 44-jährige Mutter von elf Kindern, ihrem Jüngsten, dem Ludwig, möge man einen lang ersehnten Farbkasten auf sein Bett legen. Der Sechsjährige hatte schon viel gezeichnet und konnte mit diesem Geschenk endlich seine Bilder kolorieren. Er hatte vor allem Räume detailgenau gezeichnet. Dieser Lehrersohn Ludwig Eisenlohr begann, obwohl er auch hochmusikalisch und sprachbegabt war, 16-jährig ein Architekturstudium an der Stuttgarter Polytechnischen Schule. Zu den technischen Fächern Statik, Geometrie, Mathematik und Zeichnen sorgten Vorlesungen über Ästhetik, Literatur und Sprachen für eine umfassende Bildung. Dann kamen seine Lehrjahre in Berlin und Italien.
„Architektur ist ein kunstvolles und großartiges Spiel des Lichts im Baukörper“, beschrieb er sein Erleben in dem sonnenverwöhnten Land. Mehr Licht und Luft für die Oberlenninger Schulkinder forderte dringend zu Beginn des 20. Jahrhunderts die örtliche Schulbehörde. Der damalige Gemeinderat entschloss sich für einen großzügigen Schulhaus-Neubau. Tatkräftig unterstützten die Fabrikanten Adolf und Heinrich Scheufelen dieses Vorhaben, indem sie diesen inzwischen renommierten Stuttgarter Architekten Ludwig Eisenlohr mit der Planung beauftragten. Dieser hatte bereits für die Firma mehrere Gebäude und die Fabrikanlage entworfen. Besonders eindrücklich ist die Hallenfront mit den backsteinumrahmten Fenstern und dem charmanten Walmdachtürmchen parallel zur B 465. Sie ist eine einladende Visitenkarte, den baulichen Zusammenhang dieser historischen Gebäude wahrzunehmen. Eisenlohrs Architektur war nicht nur im süddeutschen Raum, beispielsweise das Marbacher Schiller-Nationalmuseum, sondern auch in europäischen Städten gefragt und hat heute – sofern nicht im Krieg zerstört – Denkmalqualitäten. Das von ihm entworfene Oberlenninger Schulhaus ist im Neubiedermeierstil gebaut, der sich durch strenge Eleganz seiner klaren Formen und pastos wirkungsvollen Farben auszeichnet und bis heute nichts von seinem Charme eingebüßt hat. Auch die Architekten der Stuttgarter Schule sorgten in den 20er-Jahren für Lenningens ländlichen Reiz mit dem Flair der „Klassischen Moderne“.
Vom Frühjahr bis in den Herbst sind Gärten und Fensterbänke verschwenderisch bunt. Und war heuer im Juni nicht die Mohn-Kornblumenwiese hinter der Schwelchergasse eine Augen-Weide für Bienen, Schmetterling und Mensch? Mit tausend jungen Bäumen hat die Gemeinde die grüne Zukunft der Streuobstwiesen ringsum gefördert. Noch schlummern grüne Zukunftsträume in den ehemaligen Schlossgärten, dem Herrenwegle, noch wartet mancher Wildwuchs auf gärtnerische Kunst.
Die Panorama-Weitsicht vom Bol, den Wielandsteinen oder den Mittagsfelsen bietet Impressionen in den Farben der Jahreszeiten: die blühenden Streuobstwiesen, der sommerliche Gewitterhimmel über dem Kammfelsen und Farbsinfonien in den Herbstwäldern. Der Winter lässt kristallblaues Licht über Raureif und Schnee fließen. „Das Licht ist Maß und Zahl der Jahreszeiten, der Tage und all unserer Zeit“, sagt ein kluges Wort – mildes Morgenlicht zeichnet die Alb in Grün-, Blau- und Nebeltönen; der Mittag malt ohne Schatten; die Sonne geht zuweilen in dramatischer Kulisse unter. Fahlgelb scheinen bei Vollmond Felshänge und Ruinen.
Am kommenden Sonntag ist der Tag des Offenen Denkmals, eine Einladung zu einem Rundumblick in diesem Landschafts- und Naturschutzgebiet. Wie jedes Jahr öffnet das Oberlenninger Schlössle seine Tür. Der Förderkreis, der sich kulturelle und denkmalpflegerische Aufgaben zum Ziel gesetzt hat, und der Musizierkreis laden ab 11 Uhr ein zu einer Matinee. Mit Renaissanceliedern wird das Ensemble der Musikschule Lenningen für die stimmigen Klangfarben sorgen. Bei dem diesjährigen Motto kann das Fachwerkgebäude mit seinem ochsenblutroten Gebälk und dem italienischen Ockergelb an den Eckfenster-Blenden auftrumpfen. Auch nachts steht demnächst der einstige Adelssitz im Rampenlicht. Das ermutigt, das Ortsbild künftig farbenfroh aufzumischen. Irgendwann wird bei der Sanierung der Oberlenninger Dorfmitte auch das Rathaus Farbe bekennen. Wer will schon farblos sein.